Mit reinem Gewissen
1950er-Jahren der Erfolgsweg zur demokratischen Gesellschaft begonnen« habe. Dabei war für diese Zeit die vielfache Blockierung der demokratischen Rechtsordnung charakteristisch, was vor allem im Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen zum Ausdruck kam. Deren Verfolgung ging Anfang der 50er-Jahre stark zurück. Nach einer Auskunft des Justizministeriums gegenüber dem SPD-Abgeordneten Walter Menzel beruhte diese Tendenz zur Strafvereitelung darauf, dass man im Ministerium angesichts der Erörterungen über eine Generalamnestie für NS-Verbrechen Anfang der 1950er-Jahre »an eine Art Trend in der Öffentlichkeit [glaubte], auf die Verfolgung jener Delikte nicht mehr so Wert legen zu müssen«.
Die These von der Erfolgsgeschichte hat freilich auch ihr Recht, wenn man die Funktionsfähigkeit des Parlamentarismus, den Wechsel der politischen Leitungen in Bund und Ländern durch allgemeine und freie Wahlen, die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Wahrerin der Grundrechte vor allem gegenüber der Exekutive, aber auch gegenüber einem die Grundrechtsbindung missachtenden Parlament ins Auge fasst.
Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts beruhte in der ersten Phase der Bundesrepublik wesentlich darauf, dass sich etwa die Hälfte der dort tätigen Richter während der NS-Diktatur dem Regime – sei es in der Emigration oder in Deutschland – auf unterschiedliche Weise entgegengestellt hatte. Der überwiegende Teil des Justizapparats unterschied sich jedoch vom |14| liberaldemokratischen Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts.
Die liberaldemokratisch eingestellten Juristen im Bundesverfassungsgericht hatten ein starkes Gewicht. Das Gericht konnte, wenn auch zum Teil uneinheitlich, der zentralen verfassungsrechtlichen Festlegung, wonach alle Zweige der öffentlichen Gewalt an die Grundrechte gebunden sind (Art. 1, Abs. 3 GG), über Jahrzehnte hinweg zur Wirksamkeit verhelfen. Diese Rechtsprechung steht in direktem Gegensatz zur Aufhebung der persönlichen und politischen Freiheitsrechte durch die Reichstagsbrandverordnung der NS-Diktatur vom 28. Februar 1933, der »Verfassungsurkunde« (Fraenkel) des Dritten Reichs, auf die insbesondere die Einweisung in die Konzentrationslager gestützt wurde.
Ein großes Exempel für die Durchsetzung der Freiheitsrechte gegenüber einer autoritär werdenden Exekutive stellt das Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1961 dar. Es qualifizierte die weitgehende Aufhebung der Meinungsfreiheit durch eine von der Regierung Adenauer beherrschte Deutschland-Fernseh-GmbH als Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Garantie des Art. 5GG und wehrte damit den politischen Angriff auf das wichtigste, die Demokratie konstituierende Grundrecht ab. Der Schutz der Grundrechte, der in vielen Entscheidungen zum Ausdruck kommt, war für die Verfassungsrichter mit der – von Rechtfertigungsinteressen ungetrübten – Erkenntnis verbunden, dass das Hitler-Regime ein rechtsstaatlich fundiertes System war. Das Gericht konstatierte in den 1950er-Jahren, im Gegensatz zur seinerzeit in der Rechtslehre und der Justiz herrschenden Sicht, dass die Beamten des Regimes eine integrale Funktion in der NS-Herrschaft innehatten. Ihre Mitwirkung in der Diktatur reichte von der Normierung antisemitischer Gesetze, der Drangsalierung der Bekennenden Kirche bis zur terroristischen Anwendung des politischen Strafrechts gegen Vertreter der Arbeiterbewegung und des bürgerlichen Widerstands. Vor diesem Hintergrund erklärten die Verfassungsrichter die Rechte der Beamten des NS-Staats mit der Kapitulation vom 8. Mai 1945 für erloschen.
|15| Vom rechtsstaatlich-demokratischen Bezugsrahmen des Bundesverfassungsgerichts unterschied sich vielfach die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichtsbarkeit, deren Träger zu drei Vierteln aus dem Justizapparat der NS-Diktatur ins Rechtssystem der Bundesrepublik übernommen wurden. Die Folgen der Justizkontinuität und der Wiederaufstieg der einstigen rechtswissenschaftlichen Professoren sind jedoch in der Forschung über viele Jahre eher bagatellisiert als erkannt worden. Noch Horst Dreier, der im Jahre 2000 als Hauptreferent der Tagung der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer über den Gehalt und die Funktion des nationalsozialistischen Staatsrechts sprach, behauptete, es habe keine nennenswerten Nachwirkungen des NS-Rechtsdenkens im verfassungsrechtlichen Diskurs und in der Rechtsprechung der Bundesrepublik gegeben. Er schloss damit an einen
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