Mit reinem Gewissen
Uhr mit dem Beschuss der vor Danzig gelegenen Halbinsel vom deutschen Schiff »Schleswig Holstein« aus der Zweite Weltkrieg. Nach sieben Tagen konnten die Verteidiger dem Angriff nicht mehr standhalten.
Dieser Krieg endete mit mehr als 60 Millionen Todesopfern. In vielen Geschichtsbüchern, wissenschaftlichen Beiträgen und Vorträgen wirkt diese Zahl oft kalt und sachlich, baut eine Mauer auf, hinter die man sich oft nicht zu blicken traut. Dabei stehen hinter jeder einzelnen Zahl ein Mensch, eine Familie, unendlich viel Trauer und Schmerz.
Ich greife aus diesen 60 Millionen einen Namen, einen jungen Menschen heraus, der eine Geschichte hinter sich, aber keine Zukunft mehr vor sich hatte: Walter Gröger.
Die Lebensläufe von Walter Gröger (1923–1945) und Dr. Hans Karl Filbinger (1913 – 2007) könnten nicht unterschiedlicher sein: Deren Begegnung im März 1945 zieht für den einen eine »politische Affäre« nach sich, für den anderen bedeutet sie einen frühen, aus heutiger Sicht ungerechten Tod. Diese am Ende diametral gegenläufigen Vitae stehen exemplarisch für ein System, das sich in der Zeit 1933–1945 hinter menschenunwürdigen Paragraphen eines Terrorstaates jahrelang behaupten konnte und das bis tief in die Geschichte der Bundesrepublik seine gesellschaftlichen Schatten wirft.
Als der CDU-Politiker Dr. Hans Karl Filbinger im Jahr 1978 als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg zurücktreten muss, steht er in den Augen der Nachkriegs- und heranwachsenden |99| Wohlstandsgeneration als politische Symbolfigur für die nicht hinreichend aufgearbeitete Nazivergangenheit. Ihnen gilt er als Repräsentant derjenigen Karrierejuristen, die auch noch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihre im NS-Staat praktizierte Terrorjustiz rechtfertigen oder beschönigen, ohne jemals dafür zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Im Gegenteil: Sie bekamen post bellum eine zweite Chance, als Pfeiler und Wortführer dem demokratischen Deutschland an den höchsten Stellen zu dienen, und galten als die Stützen der neuen Gesellschaft.
Folgende Frage gilt es hier nun – aus politischer, gesellschaftlicher und kultureller Sicht – zu erörtern: Was hat letztlich zu diesem Skandal geführt, der zum Sturz eines der einflussreichsten Männer der Bundesrepublik Deutschland führte?
Der Dramatiker Rolf Hochhuth veröffentlicht 1978 in der Wochenzeitung »Die Zeit« einen Vorabdruck aus seiner Novelle »Eine Liebe in Deutschland«, die während des Zweiten Weltkrieges spielt. Bei seinen Recherchen macht er Entdeckungen, die auf viele schockierend wirken. Zugleich beschreibt der Dramatiker die Schwierigkeiten bei seinen Nachforschungen und berichtet über die Vergangenheit Filbingers, die er beim Durchforsten alter Dokumente aus dem Krieg entdeckt hat. Letztendlich führt seine Veröffentlichung zum Eklat und zu einem monatelangen Streit, der Dr. Filbingers juristische und politische Karriere in relativ kurzer Zeit beendet.
Im Fokus der Betrachtung Hochhuths steht vorerst der Obergefreite Kurt Petzold, den der Marinerichter Filbinger am 29. Mai 1945, der sich zu der Zeit selbst in britischer Gefangenschaft befand, mit Unrechtsgesetzen juristisch verfolgte und wegen »Wehrkraftzersetzung« verurteilte. Durch ein sogenanntes »Feldurteil« wird der Obergefreite zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, weil der Angeklagte
ein hohes Maß von Gesinnungsverfall gezeigt habe.
Dieser bis dahin unbekannte Straftatbestand ist erst im Rahmen der »Kriegssonderstrafrechtsverordnung« im Jahre 1938 eingeführt und mit Beginn des Polenfeldzuges 1939 in Kraft gesetzt worden. Mit diesem Gesetz versucht die Wehrmacht, |100| ihren Soldaten und Matrosen jegliche Möglichkeit der Auflehnung zu nehmen, sie bewusst einzuschüchtern und von »wehrzersetzenden« Tätigkeiten abzuhalten.
Kurt Petzold hat am 10. Mai 1945 einen Befehl mit den Worten verweigert:
Die Zeiten sind jetzt vorbei. Ich bin ein freier Mann. Ihr habt jetzt ausgeschissen. Ihr Nazihunde. Ihr seid schuld an diesem Krieg. Ich werde bei den Engländern schon sagen, was ihr für Nazihunde seid, dann kommt meine Zeit …
Adolf Hitler hat sich zu dem Zeitpunkt bereits selbst gerichtet. Die Kapitulation der Wehrmacht ist seit dem 7. beziehungsweise 9. Mai des Jahres amtlich. Filbinger rühmt indes noch immer staatstragend
unseren geliebten Führer, der das Vaterland wieder hochgebracht hat.
Rolf Hochhuth glaubt, dass ebendieser Marinerichter Filbinger nur dank des
Weitere Kostenlose Bücher