Mit reinem Gewissen
Schweigens »der Anderen« noch 1978 auf freiem Fuß ist. Diese »Anderen« waren mit ihm bekannt, waren teilweise selbst Teil des Nazisystems, führten damals wie eben auch 1978 gehorsam Befehle aus oder gaben selbst welche und werden durch bekannte Politiker vor der Aufdeckung ihrer eigenen Vergangenheit geschützt.
»Autoren müssen das schlechte Gewissen ihrer Nation artikulieren, weil die Politiker ein so gutes haben.«
Im Sinne dieses Zitats von 1965 sieht sich der Dramatiker nun erneut verpflichtet, die Nation u. a. von Filbingers Vergangenheit in Kenntnis zu setzen.
Filbinger verklagt Hochhuth und »Die Zeit« auf Unterlassung. Der Schriftsteller bemüht sich mit Hilfe der Wochenzeitung und des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« um weitere Informationen. Im Rahmen dieser Recherche taucht ein neuer Name auf: Walter Gröger.
Hier folgt nun ein kleiner Schwenk in die DDR. Fast zeitgleich, im Juni 1978, bekommt die Schwester von Walter Gröger unerwarteten Besuch in der Klinik in Kollwitz bei Cottbus. Sie steht kurz vor einer Operation, als eine Krankenschwester ihr ausrichtet, dass seltsamer Besuch sie im Besucherzimmer erwarte: Zwei Männer in schwarzen Ledermänteln säßen dort. |101| Auf dem Weg dorthin überlegt Grögers Schwester, ob sie es mit der Stasi zu tun bekommen hat.
Es dauert eine Weile, bis sie begreift, dass diese Herren nicht von der Stasi sind, sondern aus dem Westen. Sie stellen sich als Mitarbeiter des Verlages »Volk und Wissen« aus Berlin vor. Sie seien auf Bitten des Schriftstellers Hochhuth aktiv geworden, weil dieser Dokumente zum Fall Walter Gröger entdeckt habe.
Das Gesetz der Bundesrepublik Deutschland sieht vor, dass die Angehörigen ihre Erlaubnis erteilen müssen, um die Akten der Öffentlichkeit preiszugeben. In diesem Moment erfährt die Frau, dreißig Jahre später, die genauen Umstände des Todes ihres Bruders. Als sie nach einem Foto ihres verstorbenen Bruders gefragt wird, zieht sie eines aus ihrem Portemonnaie hervor. Während die Männer mit der Schwester reden, sind andere vom Verlag des »Spiegel« bei ihrem Ehemann, der ein Foto herausholt und weitergibt, das dann durch alle Medien gereicht wird.
Plötzlich erlangt Walter Gröger tragische Berühmtheit: Sein Bild taucht in den Nachrichten auf. Beide Männer, Walter Gröger und Karl Filbinger, repräsentieren dreißig Jahre nach Kriegsende die jeweils andere Seite der ehemaligen Nazidiktatur, stehen in binärem Kontrast zueinander, wie es aus menschlicher Sicht erschütternder nicht sein kann. Im Kern ist dies nichts Ungewöhnliches: Schicksale der politischen Verfolgung, Unterdrückung, Verurteilung und massenweisen Tötungen treffen über 30 Jahre später auf diejenigen, die dafür verantwortlich zeichnen.
Auf der einen Seite steht der Marinerichter Hans Karl Filbinger als eine der Systemstützen; auf der anderen Seite der einfache Matrose Walter Gröger als Betrogener, als ein Opfer der Willkürjustiz. Walter Gröger steht stellvertretend für seine Generation als einer von Millionen, der während des Nationalsozialismus in ein rigides System hineinwächst und am Ende als »unrühmlicher Fahnenflüchtling« mit dem Leben bezahlen muss.
Ministerpräsident Filbinger verteidigt seine verhängnisvolle Tätigkeit als NS-Marinerichter mit dem Satz:
Was damals Recht
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war, kann heute nicht Unrecht sein!
Damit löst er einen der bis dato größten politischen Skandale in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Mehr als fünf Monate lang ist die deutsche Öffentlichkeit durch die Affäre Filbinger/Gröger geradezu elektrisiert. Kurz nachdem die Aktionen der RAF die deutsche Gesellschaft gespalten haben, gibt es wieder ein Pro und Contra zwischen Linken und Rechten.
Nicht nur die Vergangenheit des uneinsichtigen Politikers, sondern auch das Schicksal Walter Grögers und seiner Familie wird ans Licht der Öffentlichkeit getragen, sie hinterlassen Spuren, die nie wieder verwischt werden können.
Walter Gröger steht in diesem Zusammenhang auch stellvertretend für insgesamt 16 000 wegen Desertion verurteilte Wehrmachtsoldaten (davon etwa 10 000 vollstreckt), verhängt von deutschen Richtern gegen junge Männer, die sich sicherlich in verzweifelter Lage großteils gegen diesen aussichtslosen Krieg entschieden haben.
Deserteure verdienen nichts anderes
, lautete Hitlers Vorgabe. Dieses Statement verdeutlicht umso mehr, dass der Soldat Hitlers Ansicht nach sterben kann, der Deserteur aber sterben muss.
Heute
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