Mit verdeckten Karten
aufgewacht war, sich um acht mit General Satotschny im Park getroffen und um elf Uhr begonnen hatte, die Wohnungen in dem Haus abzuklappern, in dem Russanow wohnte. Vielleicht kam ihr die Zeit auch deshalb so endlos vor, weil ihre Gedanken an diesem Tag viele Male die Richtung gewechselt hatten und ständig verschiedenen, völlig gegensätzlichen Hypothesen gefolgt waren. Gegen fünf Uhr nachmittags fühlte sie sich plötzlich völlig zerschlagen und krank. Dem nächtlichen Frost war am Tag Regen gefolgt, jetzt kam durch die Wolken, die der Wind über den Himmel jagte, hin und wieder die Sonne hervor, und Nastja reagierte auf den heftigen Witterungsumschwung mit Schwäche und Schwindel, ihre Hände zitterten. Ihr größter Wunsch war es, sich in eine warme Decke einzuwickeln und zu schlafen.
Nachdem sie nach den Gesprächen mit den redseligen Rentnerinnen nach Hause gekommen war, hatte sie Igor Lesnikow angerufen, sich danach an den Computer gesetzt und, um die Zeit irgendwie totzuschlagen, angefangen, immer wieder die Karte des Moskauer Umlandes mit den markierten Tatorten des unbekannten Scharfschützen zu betrachten. Es befanden sich bereits sechs Markierungen auf der Karte, und Nastja starrte die eingezeichneten Punkte unverwandt an, in der Hoffnung, wenigstens eine vage Gesetzmäßigkeit in ihrer Anordnung zu erkennen.
Gegen sechs rief Ljoscha Tschistjakow an, sie unterhielt sich eine Viertelstunde mit ihm und gab immer wieder falsche Antworten, weil sie nicht aufhören konnte, an den Scharfschützen zu denken, der so weit gegangen war, den Enkel des mächtigen Trofim umzubringen.
»Nastja, komm zu dir!« sagte Ljoscha. »Wo bist du? Ich habe dich gefragt, wie lange du noch am Computer sitzen willst.«
»Vom Zaun bis zum Mittag«, scherzte sie, weil ihr in diesem Moment der Witz vom armenischen Dorfältesten einfiel, dem es gelungen war, Zeit und Raum miteinander zu verbinden.
»Wenn ich nachher vorbeikomme, wirst du mich dann für ein Stündchen an die Maschine lassen? Du hast bestimmt wieder nichts gegessen, ich kaufe unterwegs ein und koche uns was, aber ich werde ein bißchen arbeiten müssen.«
»Was?« fragte sie zerstreut und war plötzlich wie außer sich. »Ljoschenka, du bist ein Genie. Komm schnell! Ich liebe dich.«
»Ist bei dir eine Schraube locker?« fragte Tschistjakow, aber Nastja war sicher, daß er lächelte. »Hast du wenigstens Brot im Haus?«
»Nein, ich habe überhaupt nichts. Sei umarmt, Ljoschenka, ich warte auf dich.«
Sie warf den Hörer auf die Gabel und stürzte wieder zum Computer. Zeit und Raum miteinander verbinden. Natürlich, das war es! Lieber Gott, wie einfach!
Nastja sprang wieder auf, lief zum Telefon und wählte Tschernyschews Nummer.
»Andrjuscha«, rief sie aufgeregt, als sie Andrejs Stimme in der Leitung vernahm, »bitte besorg sofort einen Fahrplan von allen Zügen, die von Moskauer Bahnhöfen aus ins Umland fahren, und komm so schnell wie möglich zu mir!«
»Wozu?«
»Es muß sein. Bitte Andrjuscha, frag nicht, verlier keine Zeit!«
»Ich wollte gerade Kyrill zu Fressen geben und dann ein bißchen rausgehen mit ihm . . .«
»Tschernyschew, willst du, daß mich der Schlag trifft?!« schrie sie ins Telefon. »Wir haben bereits sechs Leichen, und woran denkst du? Pack deinen Kyrill ins Auto, nimm sein Fressen mit, und fahr los! Du kannst ihn hier füttern und dann mit ihm Spazierengehen.«
»Du bist ein Tyrann im Rock«, murmelte Andrej, mehr pro forma allerdings, weil ihm klar war, daß es wirklich brannte, wenn Nastja Kamenskaja Feuer meldete. Und wenn sie anfing zu schreien, dann mußte höchste Alarmstufe angesagt sein.
4
Die Privatvilla am Standrand von Moskau war von einem schweren, gußeisernen Zaun umgeben, durch den man alles sehen konnte, was nötig war, um ein für allemal den Wunsch zu verlieren, hinter den Zaun des Grundstücks zu gelangen. Das Haus war nach allen Regeln der Kunst gesichert und bewacht, was keinesfalls zu überflüssiger Neugier anregte.
Vitalij Wassiljewitsch Sajnes hielt sich hier nicht gern auf, weil er in diesem Haus seine Nichtigkeit besonders deutlich spürte. Der Hausherr begegnete ihm mit verdeckter Geringschätzung, doch je sorgfältiger er diese Geringschätzung verbarg, desto deutlicher war sie spürbar. Sajnes ertrug es, weil er vom Hausherrn abhängig war.
»Unsere ausländischen Geschäftspartner sind äußerst unzufrieden, weil wir auch die zweite Firma auflösen mußten. Sie mögen keine Verzögerungen in
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