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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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töten.
    Kira war völlig klar, daß mit der Sache nicht zu scherzen war. Die Leute, zu deren Sphäre sie sich so hartnäckig Zugang verschafft hatte, spielten keine Spiele. Falls sie ihren Auftrag nicht erfüllte, würden sie sie sehr schnell finden und bestrafen. Aber Kira hatte auch nicht vor, ihnen zu gehorchen. Niemals, unter keinen Umständen würde sie Platonow umbringen. Denn während sie auf der Bank auf dem menschenleeren Boulevard saß und sich die kalten Regentropfen von den Lippen leckte, begriff sie plötzlich, daß sie, den Abzugshahn des Revolvers ziehend, mit einer einzigen Fingerbewegung sechs Menschenleben ausgelöscht hatte, ähnlich wie bei einem Kartenspiel, bei dem die Spieler erst die wertlosen Karten ablegen, die Nieten. Man entledigt sich der Nieten, und erst dann beginnt das eigentliche Spiel. Und es war etwas ganz anderes, einen fremden Menschen umzubringen, auf den man schoß wie auf ein bewegliches Ziel, als einen, mit dem man zehn Tage in einer Wohnung zusammengewohnt hatte. Einen Menschen, mit dem man sich unterhalten und für den man gekocht hatte, dem man geholfen und mit dem zusammen man gebangt hatte. Einen Menschen, der einem vertraute. Nein, das war etwas ganz und gar anderes.
    Kira mußte etwas einfallen, um Dmitrijs und ihr eigenes Leben zu retten. Dafür hatte sie bis zum Dienstag abend Zeit. Im äußersten Fall bis zum Mittwoch morgen.

ZWÖLFTES KAPITEL
    1
    Die alten Mütterchen im Haus erwiesen sich als außergewöhnlich gesprächig. Entweder bekamen sie selten Besuch von ihren Kindern und Enkeln, oder sie hatten alle einen besonders offenen, gutmütigen und wißbegierigen Charakter, jedenfalls wußten sie sehr viel über ihre Nachbarn und berichteten mit großer Bereitschaft.
    Besonders viel Zeit nahm das Gespräch mit Maria Fjodorowna Kasakowa aus dem Parterre in Anspruch.
    »Ach, das arme Mädchen!« jammerte die Alte, während sie ihrem Gast Tee nachschenkte und das Schälchen mit Konfitüre auffüllte. »Es wächst ohne mütterliche Fürsorge auf. Der Vater ist gut, solide, aber er arbeitet Tag und Nacht. Und Vera ist keine Mutter, sondern eine Strafe. Läuft immer nur betrunken herum. Ein Wunder, daß sie das Mädchen noch nicht zugrunde gerichtet hat.«
    »Warum macht sie denn keine Entziehungskur?« fragte Nastja, während sie genüßlich den Sirup der Aprikosenkonfitüre vom Löffel leckte.
    »Sie will einfach nicht«, seufzte Maria Fjodorowna.
    »Vielleicht sollten die Eltern sich scheiden lassen«, schlug Nastja vor.
    »Nicht dran zu denken.« Die Alte winkte ab. »Wie oft haben wir ihm schon gesagt, nimm dein Kind, und bring deine Frau vor Gericht, damit ihr geschieden werdet und du das Sorgerecht bekommst.«
    »Und was sagt er?«
    »Nichts. Er schüttelt nur den Kopf. Ich kann meiner Frau diese Schande nicht antun, sagt er. Und meine Tochter tut mir leid. In der Schule würden sofort alle erfahren, daß ihre Mutter eine Alkoholikerin ist, der man das Sorgerecht für ihr Kind aberkannt hat. Kinder sind grausam, wissen Sie, sagt er, sie würden meinem Mädchen das Leben vergiften. Und auch die Lehrer sind heutzutage nicht mehr sehr gescheit, sie würden das Mädchen nicht in Schutz nehmen vor den andern, sondern selbst noch Öl ins Feuer gießen. Nein, nein, der Mann hat schon recht, er verhält sich sehr edel. Er hat sich die Frau selbst ausgesucht, jetzt muß er sein Kreuz tragen, man kann es nicht auf die Schultern anderer abwälzen.«
    »Aber das Kind wird doch älter«, widersprach Nastja. »Wie alt ist es denn? Das Mädchen hat sich die Mutter doch nicht ausgesucht, warum muß es denn leiden?«
    »So beißt sich die Katze in den Schwanz.« Die Kasakowa nickte zustimmend. »Das Kind tut einem leid, die Mutter tut einem leid, und der Vater kann nicht gegen sein Gewissen handeln. Sein Gewissen sagt ihm, daß er seine Frau nicht aus dem Haus jagen darf.«
    »Tatsächlich?« bemerkte Nastja. »Und sein Gewissen sagt ihm nicht, daß er normale Lebensbedingungen für sein Kind schaffen muß?«
    »Ach, mein Töchterchen, das ist alles nicht so einfach. So ist es schlecht und anders auch. Er muß es selbst wissen, wir haben nicht das Recht, ihn zu richten.«
    »Aber nicht doch, Maria Fjodorowna, ich bin doch nicht gekommen, um zu richten. Ich helfe dem Bezirksmilizionär, das ist eine Art Praktikum für mich. Er hat mich gebeten, mal durch den Bezirk zu gehen und mit den Leuten zu reden, vielleicht hat jemand streitsüchtige Nachbarn, vielleicht gibt es Kinder, die

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