Mit verdeckten Karten
dein geliebter Bruder, der auch nicht irgendwo arbeitet, sondern im Hauptkriminalamt zur Bekämpfung von Wirtschaftsverbrechen. Sollte es jemand auf ihn abgesehen haben, wärst du auch in diesem Fall ein ideales Druckmittel. Du lebst allein, und mit dir wird man im Handumdrehen fertig.«
»Wo ist da die Logik? Angenommen, du hast mich davon überzeugt, daß mein Leben in Gefahr ist. Was hat das damit zu tun, daß du mit mir nicht über deine Probleme sprechen willst?«
»Erst einmal will ich wissen, ob du dir darüber im klaren bist, daß du wegen Sergej und mir in ständiger Gefahr schwebst.«
»Es mag sein, daß du recht hast.«
»Nein, nein, so geht es nicht. Bist du dir im klaren oder nicht?«
»Na gut, ich bin mir im klaren.«
»Dann denk einmal über folgendes nach! Wenn schon über dir, einem völlig friedlichen Menschen, einer Musikerin, ein ständiges Damoklesschwert schwebt, in welcher Situation befinden sich dann dein Bruder und ich? Wir leben Tag für Tag auf Messers Schneide, und wenn wir spätabends nach Hause kommen, danken wir still und leise dem Schicksal, daß wir am Leben geblieben sind. Aber Sergej und ich sind starke, erfahrene Männer, die mit allen Wassern gewaschen sind. Wir können unsere Kräfte realistisch einschätzen und wissen, daß man die Gefahr nicht unterschätzen, aber auch nicht überschätzen darf. Aber stell dir vor, was aus deinem Leben werden würde, wenn wir dir alles erzählen würden, was um uns herum vor sich geht. Verstehst du, was ich meine?«
»Nicht ganz.«
»Dann nehmen wir folgendes Beispiel. Eine Mutter bringt ihr Kind, dem ein Zahn gezogen werden muß, zum Zahnarzt. Ich habe keine Angst, sagt das Kind, es wird ja bestimmt nicht weh tun. Der Mutter hat man in der Kindheit auch Milchzähne gezogen, sie erinnert sich genau, daß es ein völlig schmerzloser Vorgang war, aber ihr ist, als setzte sie ihr Kind auf den elektrischen Stuhl. Als stünden ihm unerträgliche Leiden bevor. Kurz, die Prozedur kostet die Mutter hundertmal mehr Aufregung und Nerven als das Kind. Verstehst du jetzt?«
Lena nickte.
»Ja, jetzt verstehe ich«, sagte sie. Ihr Kopf lag immer noch auf Platonows Knien, deshalb erschöpfte sich ihr Nicken darin, daß sie ihre Wange an seinem Hosenbein rieb. »Obwohl du fünfzehn Jahre älter bist als ich, fürchtest du, ich würde dich sehen wie eine Mutter ihr Kind. Glaubst du nicht, daß du etwas übertreibst, Platonow?«
Er lächelte. »Die Frauen sehen uns immer als Kinder. Darüber ist viel geschrieben worden, besonders in der Prosa des neunzehnten Jahrhunderts. Und auch jetzt taucht das Thema ständig auf. Zum Beispiel bei Eduard Topoi.«
»Liest du etwa Eduard Topoi?« Lena rückte entschieden von ihm weg und funkelte ihn, auf dem Teppich sitzend, mit einem empörten Blick an.
»Warum denn nicht?« fragte Dmitrij mit gespielter Naivität. Natürlich wußte er genau, was sie meinte, aber es gefiel ihm, sie zu ärgern. Sie war äußerst streng in ihren Urteilen und stellte höchste Ansprüche an jede Art von Kunst, ob es Musik war, Literatur, Film oder Malerei.
»Wie kannst du fragen? Ich habe dir doch verboten, Topoi zu lesen. Das ist doch Schund, das ist billige Massenware, das ist Pornographie, das ist. . .«
Ihr blieb die Luft weg vor Empörung, sie konnte die richtigen Worte nicht finden und drückte ihre Empörung nur mit dem Funkeln ihrer großen dunklen Augen aus.
Dmitrij betrachtete sie gerührt. Sie geht immer noch davon aus, dachte er, daß ein erwachsener Mensch einem anderen etwas verbieten kann, und daß dieser andere sich an das Verbot halten wird. Eine typisch mütterliche Logik. Es gibt nur zwei Arten, wie Menschen auf ein Verbot reagieren. Verbiete mir, was du willst, sagt sich der eine, ich mache sowieso, was ich für richtig halte, und ich denke nicht daran, es vor dir zu verheimlichen. Und derjenige, der sich an das Verbot hält, tut es nur scheinbar, er macht auch, was er will, und versucht nur, es den anderen nicht merken zu lassen. Der Mensch, der aufrichtig bereit ist, sich an ein Verbot zu halten, ist noch nicht geboren.
»Mir gefällt er trotzdem«, sagte er, um Lena noch mehr zu reizen. »Ich halte ihn für einen großartigen Schriftsteller, du solltest aufhören, so über ihn herzufallen.«
»Du . . .« Sie begann plötzlich zu lachen. »Du bist ein Schurke, Platonow. Jetzt hast du mich doch noch drangekriegt. Ich ergebe mich, du hast recht. Wenn es mich schon so aufregt, daß wir nicht denselben
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