Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
anderen Seite besteht aber auch die Gefahr, sich selbst zu verfehlen, indem man sich pflichtgetreu einer Aufgabe widmet, ohne den Sinn dieser Aufgabe mit dem Sinn der eigenen Existenz zu vergleichen. Ein solcher Eigen-Sinn würde gerade heute vielfach dazu führen, die Sinnlosigkeit, ja Sinnwidrigkeit des beruflichen Tuns zu erkennen. Was habe ich von mir zu halten, wenn ich meine ganze körperliche oder intellektuelle Kraft Tag für Tag und Jahr für Jahr einer Sache widme (zum Beispiel einem Produkt), die ich angesichts der Situation unserer Erde für verhängnisvoll halte? Dazu muss ich gar nicht in der Rüstungsindustrie oder in einem Atomkraftwerk beschäftigt sein – hier wird lediglich die übergeordnete Fragwürdigkeit besonders eklatant, die mein «pflichtbewusstes» und mit voller Hingabe an die technischen Aspekte der Aufgabe erfülltes Handeln in seltsamer Weise begleitet. Dies ist eine neue Form von Selbstentfremdung: Ein Techniker oder Konstrukteur mag in seiner Aufgabe «voll aufgehen», herausgefordert durch die immanenten Probleme seiner Arbeit, und doch im gleichen Atemzuge spüren, dass er seinen existenziellen Auftrag verfehlt, dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Vielleicht verfügt mancher «Aussteiger» über genau diesen Spürsinn, auch wenn er von außen als pfiffiger, die Anstrengung scheuender Honigschlecker angesehen wird. Selbstverwirklichung in diesem Sinne bedeutet, bei aller pflichtbewussten Hingabe an eine Aufgabe die Prüfung ernst zu nehmen, ob mir diese Hingabe guttut – in körperlicher und seelischer Hinsicht, aber auch in Hinsicht auf die wertgeleitete Ausrichtung meiner Existenz.
Versuchen wir diesen Gedankengang in einem zweiten Werte- und Entwicklungsquadrat festzuhalten:
[5]
In dem obigen Zitat von Frankl war noch von einem zweiten Hingabe-Aspekt die Rede, von der Hingabe an den Partner. Dies führt zu einem dritten Vorwurf, zu der dritten Entwertungsmöglichkeit eines verkürzten Selbstverwirklichungsbegriffes. Vielen Frauen und Männern, besonders aber Frauen, wurde bewusst, dass sie jahre- und jahrzehntelang die eigene Entwicklung auf dem Altar der Ehe und Familie geopfert hatten. «Selbstverwirklichung» bedeutet hier, sich zu befreien aus einer symbiotischen Abhängigkeit – eigene Bedürfnisse ernst zu nehmen und Entfaltungsmöglichkeiten zu ergreifen, auch wenn dies die Partnerschaft plötzlich viel schwieriger macht und nicht selten gefährdet; neben das «Wir» tritt die Perspektive des «Ich einerseits und du andererseits». In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass ich nötigenfalls «meinen Weg» allein gehe. Wird nun dieses «Nötigenfalls» in ein Ideal umgedeutet, dann besteht die Gefahr, Bindung und Hingabe an einen anderen Menschen nur als Hindernis für die Selbstentwicklung zu begreifen statt als einen ihrer zentralen Aspekte. Was dann als «Selbstverwirklichung» ausgegeben wird, mag in Wahrheit narzisstische [6] Beziehungslosigkeit sein. Wiederum wird allerdings ein solcher Gegenpendelschlag in mancher persönlichen Entwicklung nötig sein, um sich aus selbstblockierender Abhängigkeit erst einmal zu lösen.
Somit ist das dritte dialektische Spannungsverhältnis vorgegeben, in das die Selbstverwirklichung eingebunden ist:
In unserem Kulturkreis sind die Werte «oben rechts» jeweils hoch im Kurs gewesen:
1. Der Gemeinschaftssinn und die Bereitschaft, sich für Volk und Vaterland aufzuopfern, bis hin zu «Du bist nichts, dein Volk ist alles!»
2. Das «preußische» Pflichtgefühl – bis hin zur Selbstentsagung und zum verbrecherischen «Ich tue nur meine Pflicht!»
3. Die traditionelle Ehemoral, die besonders den Frauen kein Recht auf Eigenentwicklung zugestand, bis hin zur selbstverleugnenden Aufopferung.
Vor diesem Hintergrund wird es verständlich und für die Humanisierung des Menschen wünschenswert, wenn die Entwicklungslinie von unten rechts nach oben links verläuft – auch wenn das Gegenpendel dabei gelegentlich zu weit schlägt. Wenn in dem Selbstverwirklichungsbegriff die hier angedeutete dreifache dialektische Spannung enthalten ist, dann kann er zu einer höheren Stufe menschlichen Daseins führen. Andernfalls führt er zum Egoismus und Hedonismus, damit auch zu Sinnleere, Isolation und Depression (vgl. auch Ruth Cohn in: Farau und Cohn, 1984, S.434–437).
3.5
Polarisierungen in Diskussionen durchschauen
Ich habe bisher zwei (zusammenhängende) Nutzanwendungen des Wertequadrates beschrieben: die individuelle Bestimmung der
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