Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
Entwicklungsrichtungen eines Menschen (oder auch einer Gruppe) zu bestimmen, die angezeigt sind, um den besonderen Herausforderungen der jeweiligen Berufspraxis und Lebenswelt gerecht zu werden.
Als psychologische Erwachsenenbildner haben wir mit der folgenschweren Tatsache zu leben, dass sich die Entwicklungsrichtungen unserer Kursteilnehmer überkreuzen. Der eine sagt: «Ich neige dazu, um des lieben Friedens willen meine Ansichten zurückzustellen, stets viel Verständnis für alles und jeden aufzubringen und Konflikten aus dem Weg zu gehen. Mir fehlt, dass ich mal mit der Faust auf den Tisch schlage und unmissverständlich klarmache, was ich ablehne und verabscheue. Das möchte ich lernen!» Jemand anderes: «Mir ist klargeworden (man hat es mir auch oft gesagt), dass ich durch meine Art die Leute ziemlich vor den Kopf stoße. Ich habe tatsächlich oft das Gefühl, von Dummköpfen und Versagern umgeben zu sein – und dann rede ich Klartext und haue wohl auch mal drauf. Dabei meine ich es manchmal gar nicht so! Ich möchte lernen, toleranter zu werden, mehr Verständnis aufzubringen für meinen Sohn, meinen Chef, meine Frau und meine Mitarbeiter. Und dass die Leute sich nicht gleich angegriffen fühlen, wenn ich den Mund aufmache. Kann man so etwas lernen?»
Je nach Selbstdiagnose überkreuzen sich also die Entwicklungsrichtungen wie folgt:
Die zwischenmenschliche Kommunikation betreffend gibt es viele solcher Entwicklungsquadrate. Wir werden sie, ausgehend von typischen Kontaktmustern, im Kapitel III nach und nach kennenlernen und dann ansatzweise auch den Weg genauer beschreiben, der jeweils zurückzulegen ist.
An dieser Stelle möchte ich noch ein allgemeines, besonders von der Humanistischen Psychologie proklamiertes Entwicklungsziel besprechen, das unter dem Schlagwort «Selbstverwirklichung» in die öffentliche Diskussion – und in den öffentlichen Streit – gekommen ist.
Mithilfe der folgenden Werte- bzw. Entwicklungsquadrate mag es gelingen, zum einen die Kritik an diesem Entwicklungsziel zu integrieren als auch den umstrittenen Begriff selber genauer zu bestimmen.
Die naheliegendste und wohl auch am häufigsten vorgebrachte Kritik meint in der Selbstverwirklichung einen kaum verbrämten «egoistischen» Zug zu entdecken. «Du hast 10 Semester Egoismus studiert!», lautet die Klage eines Ehepartners, dessen Frau nach ihrem Studium darauf bestand, eigene Wünsche und Forderungen anzumelden und auch durchzusetzen. Appelliert wird mit dieser Klage an das soziale Empfinden, dass der Mitmensch, der vielleicht nicht so kraftvoll in der Lage ist, für sich einzutreten, Rücksicht beansprucht. Erinnert wird auch an die übergeordneten Interessen einer Gemeinschaft, denen sich das Individuum unterzuordnen habe. Aber vielleicht ist die Ehefrau gerade dabei, sich aus der «Ecke» der Selbst-losigkeit emporzuarbeiten, und gerät schon bei den leisesten Anzeichen von Selbstbehauptung in den Verdacht, ins Gegenextrem abzugleiten? Möglich auch, dass das Gegenextrem vorübergehend nötig ist, um die Waagschale überhaupt in Bewegung zu bringen?
Ein ähnlicher Vorwurf, der sich gegen die «Selbstverwirklichungsbewegung» richtet, lautet: «Wenn jeder nur noch täte, was ihm Spaß macht und worauf er gerade ‹Bock› hat, wenn keiner mehr – persönliche Unlustgefühle überwindend – seine Pflicht zu tun bereit ist, dann geht alles vor die Hunde!» Hier wird Selbstverwirklichung mit Vergnügungssucht und Pflichtvergessenheit gleichgesetzt – bzw. es wird den Anhängern der «Bewegung» eine solche Gleichsetzung unterstellt. Während der erste Vorwurf einen Mangel an Rücksicht gegenüber den Mitmenschen beklagte, so wird in diesem zweiten Vorwurf die verantwortliche Bindung der persönlichen Kräfte an eine Aufgabe vermisst (ist hier nicht das Sich-Aufgeben eher gefragt als das Sich-selbst-Verwirklichen?).
Diese Kritik wirft existenzielle Probleme auf. Zunächst ist es von der zeitgenössischen Psychologie, besonders durch Victor Frankl (1981) herausgestellt worden, dass die menschliche Existenz ohne die Bindung an eine Aufgabe, an etwas, was über sich selbst hinausweist, verkümmert (vor allem in die Depression): «Erst im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einem Partner wird der Mensch ganz Mensch und ganz er selbst … Sich selbst verwirklichen kann der Mensch also eigentlich nur in dem Maße, wie er sich selbst vergisst, indem er … sich selbst übersieht.» (Frankl, 1981, S.38)
Auf der
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