Mitte der Welt
eine Seite, das müsste doch auch mir möglich sein! Er schnuppert am Wein, kostet und nickt.
Ja, das müsste möglich sein, sage ich und probiere ebenfalls den Wein und finde ihn ebenfalls nicht schlecht – aber ich verstehe nicht, warum du nun plötzlich »fleißig« sein willst!
Er schreibe sehr langsam, und außerdem lebe er sehr bequem; so, als ob noch endlos viel Zeit wäre, verträume er Tage und Wochen statt zu schreiben, wie es sich gehöre für einen guten Schriftsteller.
Was hindert dich, es zu ändern?
Das Leben, sagt er, nun wieder lächelnd, und eben: die Frauen!
Ich verstehe Demir nicht wirklich; und lächle ebenfalls.
Jene an der Kasse, siehst du sie, die dort sitzt?
Ich sehe eine weißhaarige Dame in dunkelblauem, beige gepunktetem Seidenkleid, die, erhöht auf einem Podest, hinter einer altertümlichen Kasse sitzt.
Sie ist Russin. Ehemals war sie eine große Schönheit. Wie viele andere auch ist sie, als Russland in der sowjetischen Bar-barei versank, übers Schwarze Meer geflohen, nach Istanbul, in die damals noch glanzvolle Metropole. Hunderttausende sind gekommen; sie, die dort sitzt, kam mit nichts als ihrer Schönheit hier an und mit ein bisschen Schmuck. Wovon sollte sie leben in dieser Stadt? Ihren guten Geschmack und ihre Juwelen hat sie in dieses Restaurant gesteckt – seither sitzt sie dort an der Kasse. Und wenn sie eines Tages stirbt, wird es ihr russisches Restaurant, das letzte dieser Art, auch nicht mehr geben.
Demir spricht von ihr wie von einer ersten Geliebten, finde ich und rechne nach, ob es möglich wäre, er als Gymnasiast und sie als reife Frau – möglich ist alles.
Ich bin eben sehr langsam, sagt er, während er die Knöchlein aus dem Perlhuhnschenkel herauslöst und am Tellerrand drapiert, auch beim Essen, wie du siehst. Meine Freunde, wenn wir essen gehen zusammen, lachen immer, wie langsam ich esse. Aber wie können sie, sagt er und betupft das nun schiere Schenkelfleisch mit Quittensauce, wie können sie das Leben genießen, wenn sie nicht jeden Bissen wirklich kosten?
Ja, du hast recht, sage ich und staune, welchen fast zärtlichen Blick er dem sorgfältig Präparierten schenkt, bevor er es zum Mund führt. Und versuche nun ebenfalls, mich meiner Ente mit mehr Aufmerksamkeit und Hingabe zu widmen – und spüre, dass ich die Vorstellung, wie er mit Frauen umgehen mag und wie es wäre mit ihm, nicht zu verscheuchen in der Lage bin.
Das Leben ist zu kostbar, um es im Fluge zu verschlingen, sagt Demir und erhebt sein Glas: Lass uns trinken, auf das Leben, und auf die Liebe!
Wir schauen uns in die Augen und stoßen an: Aufs Leben, auf die Liebe!
Und als wir getrunken haben, sagt Demir noch einmal: Trotzdem werde ich versuchen, endlich ein fleißiger guter Schriftsteller zu sein!
GUTE NACHT
Rote Leuchtraketen über dem asiatischen Ufer, von der Straße herauf Pfeifen und Rufen und Autohupen, und laute Musik irgendwoher und Schüsseknallen – haben wir also doch gesiegt?
Eben noch waren die Straßen zum Fürchten leer und still, als ich nach Hause ging, nur bläuliches Geflimmer aus allen Fenstern, und in den Cafés Männer dicht gedrängt vor den Fernsehapparaten – das Spiel Galatasaray – Manchester liege in den letzten Zügen, dachte ich, und einmal mehr würden wir die Verlierer sein.
Draußen der Lärm wird lauter und lauter – wir haben wohl tatsächlich gesiegt! Allah sei Dank und dem deutschen Trainer auch, unsere türkische Ehre ist gerettet!
Obwohl: Swjatoslaw Richter hat mich mehr bewegt am heutigen Abend – der alte Hüne, wie er über die Bühne zum Flügel ging, als ob ihm ein Stock im maßgeschneiderten Smoking steckte, und seinem Nussknackerkopf ein so knappes Nicklächeln abzwang, dass das Geklatsche im randvollen Cemal Reşit Rey Saal schlagartig erlosch; aber dann sein Spiel! Die schwermütige Leidenschaftlichkeit, die von ihm aus- und in die Schubert-Sonaten überging, so zärtlich und schmerzhaft zugleich, dass es war wie – etwas wie Glück!
Draußen das Hupkonzert wird noch immer lauter. Autos rasen die steile Straße herauf, junge Männer hängen heraus, pfeifend, schreiend, Fahnen schwenkend, Rot-Gelb für Galatasaray.
Die ganze Stadt scheint, ohrenbetäubend wie das Tosen nun ist, wieder unterwegs zu sein; sogar die Schiffe tuten mit.
Stehend am Fenster sehe ich: Ein Passagierdampfer, unberührt vom allgemeinen Siegestaumel, legt ab jetzt; ein hell erleuchteter Koloss, der sich langsam dreht in der Stadtnacht, sein
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