Mitte der Welt
mir empfehlen oder die Ente auf kaukasische Art.
Ich überlege, ob ich die Ente nehmen soll oder vielleicht doch eher Fisch, sage ich, und mir fällt jene äußerst pikante Frauengeschichte ein, die er mir neulich erzählte. Er erzähle sie mir, weil er mir Verschwiegenheit zutraue – weil du, sagte er, eine echte Schweizerin bist.
Ja, nun hätte ich doch Lust auf die kaukasische Ente, sage ich und sehe: Wieder lächelt er jenes undurchschaubare Lächeln – nein, ich weiß nicht, was er denkt. Ob er die Rolle tatsächlich annimmt, die ich ihm antrug aufgrund der Jahre, die er älter ist als ich? Oder hatte er, so wie er jetzt schaut, mit jener Geschichte die Frau aus mir herauszulocken versucht?
Ich verspreche es dir, sagt er, wenn ich nächste Woche zurückfliege, werde ich mich bemühen, endlich fleißig zu sein!
Ich find dich rührend! Dieser Vorsatz – das hast du doch gar nicht nötig, du bist gut!
Als der Kellner nach unseren Wünschen fragt, lässt sich Demir von ihm die Empfehlungen des Tages und ihre Zubereitungsart ausführlich erklären – als ob von der gelungenen Komposition des Mahles der weitere glückliche Weltverlauf abhinge. Nachdem der Kellner auch die Frage der Vorspeisen geklärt und endlich alles notiert hat, frage ich Demir, was ihn im Norden Europas noch festhalte, da er doch, wie er immer wieder betone, sein geliebtes Istanbul so sehr vermisse.
Demir atmet tief ein und wieder aus – plötzlich wirkt er sehr ernst; noch nie sah ich solchen Ernst in seinem Blick, so viel Trauer –, und fast seufzend sagt er dann: Ach weißt du –
Istanbul ist nicht mehr mein Istanbul!, sagte er, als er mich, ganz zu Beginn unserer Bekanntschaft, durch Beyoğlu führte, um mir sein Istanbul zu zeigen, das er, wie so viele andere auch, aus politischen Gründen verlassen hatte. Was damals gesagt und geschrieben wurde, sei alles falsch verstanden worden von denen, die das Sagen hatten. Sogar ihm hätten sie »politisch« angehängt – lächerlich! Trotzdem, zwei Monate Gefängnis hätten ihm gereicht. Danach sei er gegangen. Und geblieben. Noch einmal habe er geheiratet und noch einmal Kinder gezeugt, die inzwischen auch schon halberwachsen seien.
Kannst du dir vorstellen, ganz zurückzukehren nach Istanbul?
Habe er versucht. Sei ihm nicht gelungen. Sechs Monate habe er es ausgehalten. Es ist wie mit einer frühen Geliebten, du weißt dich mit ihr verbunden, aber was einmal war, hat mit heute nichts mehr zu tun; nur noch die Erinnerung ist da und der Traum. Vielleicht komme er, wenn er komme, jedes Mal ein bisschen länger, und einmal, wer weiß, vielleicht für immer. Obwohl, so wie es aussieht heute –
Aujourd’hui les barbares ont pris la ville , sagte er, als wir auf der Suche nach der Synagoge durch die Gassen von Galata gingen. Sie, die heutzutage hier leben, du siehst, sie haben keine Ahnung von Stadtkultur! Des Schreibens und Lesens kaum mächtig, kommen sie aus dem fernen Anatolien und wissen nicht, was Leben in der Stadt heißt. Ein Wunder, dass sie nicht auch Maultiere halten im Souterrain!
Ja, von den ehedem stattlichen Bürgerhäusern blättert der Putz, oft mitsamt Stukkaturverzierungen, manchmal sogar bis aufs nackte Mauerwerk; und die Höfe und Passagen oben in Beyoğlu rotten vor sich hin.
Früher, sagte Demir, war hier Bouquinist neben Bouquinist, Bücher über Bücher, aber heute wird nicht mehr gelesen! Und in den Cafés saßen kultivierte Stadtmenschen. Schau sie dir an, die heute dort sitzen! Und erst die Frauen – sie waren elegant und geheimnisvoll! Und alle hatten sie ihre eigene Art, in all den verschiedenen Vierteln, den armenischen, jüdischen, französischen, griechischen; sie hatten ihre Sprache, ihre Kultur, ihren Stil und: ihr Geheimnis.
Findest du bei den Frauen in Europa nicht, was du suchst? Die Schwedinnen, die gelten doch weltweit und auch hierzulande als besonders attraktiv, groß, blond und weißhäutig.
Ja, ihre Schönheit ist eine klare, unmissverständliche, wenn du so willst, eine bäurische, manchmal fast animalische Schönheit, was ja auch sehr attraktiv sein kann, aber es fehlt ihnen das Geheimnis. Mag sein, in Paris gibt es sie noch, diese geheimnisvolle Schönheit, und in einigen italienischen Städten, Triest, Venedig, Bologna, auch in Rom; ansonsten ist in Europa ein zu trockener, zu magerer Boden dafür.
Was sollte ich dazu sagen – ich schaue Demir an; irgendwie tut er mir leid jetzt.
Demir nimmt das Glas, seufzt und lächelt: Jeden Tag
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