Mitte der Welt
nicht für Not wendend hält, das bilde ich mir nicht ein, aber doch, vielleicht, für notlindernd; mindestens meine eigene Not: das schlechte Gewissen.
Und sie, die hier auf dem Treppenabsatz vor meiner Wohnungstür stehen und warten?
Sie stehen einfach nur da, stumm, mit offener Hand und gesenktem Blick. Aber der Vorwurf darin!
So ist das also – abends, wenn alle zusammensitzen während des Ramadan, wenn sie essen und lachen und lustig sind, dann geht ihr von Haus zu Haus und klingelt an jeder Tür und macht eure Hand auf: Trommler-Halbzeit!
Nein, sage ich, ich will nachts nicht geweckt werden. Ich faste nicht. Ich bin nicht Muslimin.
Auch sie, die Trommler, sollen wissen, auch ich bin ein Mensch, und meinen Anspruch auf Würde werde ich mir nicht erkaufen durch ihr wohlwollendes Entgegennehmen meines Geldes. Eure Trommelei brauche ich nicht, obwohl ihr mein Geld natürlich gut brauchen könntet, denke ich und sage Iyi geceler, gute Nacht!, und schließe die Tür und höre, sie gehen die Treppen hinunter, wortlos, und klingeln einen Stock tiefer.
Euer sprachloser Vorwurf – weil ich nicht von hier bin und nicht glaube wie ihr! Aber glaubt nicht, dass ihr mich kriegt, ihr mit euren finsteren Blicken, nur weil ich ein schlechtes Gewissen habe! Auch ich bin nur ein Mensch!
Die Wut im Bauch, aufgemischt von Ohnmacht und Scham, dass es so ist, wie es ist, alles, die Welt, die Menschen, ich –
Ich trete ans Fenster, schaue hinaus in die Nacht und sehe: Jetzt eben geht, oh Wunder, der Mond auf über Asien. Ein Mond wie ein Lampion so rund und so rot – es ist wirklich zum Lachen! Und wie rasch er hochsteigt! Und keiner kickt ihn runter vom Himmel, diesen unverschämten Mond!
Ich ziehe die Vorhänge zu. Ich will ihn nicht sehen. Nicht heute.
ROTER HALBMOND
Ja, der Absturz war vorauszusehen. Dass es so kommt – ich wusste es von Anfang an.
Aber das Wissen half nicht.
Und auch drüber hinweggehen half nicht.
Sogar Hatice, meine praktische Fee, wusste nicht weiter, als Liegen im Bett, mit Wärmflasche und heißem Lindenblütentee, nichts bewirkte. Dass auch die feuchtwarmen Wickel, die sie mir auf den Bauch legte, die Krämpfe nicht zu lösen vermochten, beunruhigte sie, und dass selbst Aspirin versagte, das Allerweltsmittel, das doch sonst immer hilft. Hatice flüsterte nur noch und huschte auf Zehenspitzen durch die Wohnung, und nahm mir, bevor sie ging, das Versprechen ab, dass ich zu einem Arzt gehe. Geh unbedingt, bevor es zu spät ist, sagten mir ihre blauen Augen, und ihr Mund sagte: Der Arzt kann dir bestimmt helfen.
Ich versprach es, und ging nicht – ich wusste ja, da ist nichts.
Dann aber die schlaflosen Nächte, das Gejaule der Hunde, die in Rudeln durch die Stadt streunen, der Gestank von brennendem Müll irgendwoher, trotz geschlossener Fenster; und tagsüber das ununterbrochene Verkehrsbrausen, die heulenden Polizei-Sirenen, immer wieder, und vom Gasflaschen-Auto das scherbelnde Gebimmel, Aygaz Aygaz , und Radiomusik von überallher, schmelzig-arabeskes Gedudel, und spitzes Geschrei von Kindern, und von rufenden Müttern der schneidende Singsang.
Was, wenn dein Vertrauen ins Glück sich als Illusion erwiese, als schiere Traumtänzerei, und Zufall nicht ist, was dir zufällt, sondern tatsächlich beliebig, und nun zufällig du dran bist!
Die irrwitzige Angst, dass in mir bereits das Ende sitze, festgefressen –
All die ungenutzten Chancen!
Ein vertanes Leben – nein, nicht in permanenter Emanzipation mit immer neuen Aufbrüchen, sondern endlose Folge von Fluchten.
Oder doch folgerichtig?
Aber jene, die du zurückgelassen hast?
Dass Doktor Öztürk ein wunderbarer Arzt sein muss, war ich mir sicher, schon als ich ihn das erste Mal sah. Ins Gespräch mit ihm kam ich bei einem Treffen jener Menschen, die noch immer erfüllt sind vom Pioniergeist der jungen Türkischen Republik. Er sagte, er sei nicht Arzt geworden, um sich selbst zu helfen; darum arbeite er im Kızılay Dispanseri, nicht in einer Privatpraxis. Sein Lächeln gefiel mir sehr, ich dachte, dass ich ihn mir als Arzt gut vorstellen könne und gerne zu ihm ginge, falls ich jemals ärztliche Hilfe bräuchte. Dass ich die eines Tages tatsächlich brauchen würde, nahm ich nicht an, so besoffen vom neuen Leben wie ich damals war; obwohl, das wusste ich natürlich, wenn die anfängliche Euphorie verflogen ist, wird der Preis zu zahlen sein.
Im Boot hinüber nach Üsküdar wieder der stechende Schmerz und die Übelkeit – am
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