Mitte der Welt
seiner ehrenvollen türkischen Gesellschaft bin ich nicht; nicht wie er. Irgendwann dann reichte es mir doch.
Seither gehe ich zum Bakkal an der Ecke zwei Straßen weiter oben. Tag und Nacht hat er geöffnet, immer ist jemand im Laden; tagsüber fast immer Hasans Vater und eben die Söhne, die ihm helfen, nachts die unverheirateten jungen Männer der Familie. Alle sind sie freundlich, und gut bedient wirst du von jedem – allerdings ausschließlich von den männlichen Familienmitgliedern; ihre Frauen und Töchter erscheinen im Laden nie.
Manchmal in der Mittagszeit hütet der Großvater den Laden; ein rührend netter alter Mann, der mich bittet, da ihm seine Brille keine guten Dienste mehr leiste, selbst nachzusehen auf dem Preisschild, was ich zu zahlen habe, und erleichtert ist, wenn ich statt seiner auch die Endsumme errechne.
Ja, aus einem Dorf in den Bergen hinter Diyarbakır stamme er, sagte er, aber schon vor elf Jahren sei er mit seinen Söhnen nach Istanbul gekommen.
Ob Frauen und Töchter dort geblieben seien.
Erst verstand er meine Frage nicht; dann aber doch: Natürlich sind die Frauen und die Kinder auch mitgekommen! Und großväterlich stolz fügte er hinzu, inzwischen habe er bereits sieben Enkelkinder, fünf davon geboren in Istanbul.
Hasan ist jung, und die Wasserflaschen sind eher unhandlich als schwer. Außerdem sieht Hasan aus, so selbstverständlich wie er den Tragejob tut, als ob er ihn nicht ungern tue; jedenfalls scheint er seiner Kinderwürde nicht abträglich zu sein. Vielleicht sogar, dass Hasan früh schon erfährt: Er ist ein vollwertiges Glied der Gesellschaft, nicht ein nur geduldeter Mitesser.
Drüben im alten Stambul jene Träger, die zum Tragen von Lasten auf ihren Rücken nicht Körbe tragen, sondern Gestelle aus Holz mit dick gepolsterten Schulterschlaufen und Nackenschutz. Sie tragen alles, was sich nur irgend tragen lässt auf ihren Trag-Gestellen; Lasten, die ihnen von Lastwagen herab aufgepackt werden, tragen sie durch die Gassen, die zu eng sind, als dass ein Auto sie passieren könnte, in Geschäfte und Lager und Büros oder wohin immer du willst, dass sie es tragen. Manchmal ist, was sie zu tragen haben, so schwer, dass sie nur sehr langsam gehen, mit vorgebeugtem Oberkörper, Schritt vor Schritt balancierend; und oft ist, hoch aufgetürmt und weit ausladend wie ihre Lasten sind, von ihnen, den Trägern, nichts zu sehen, wenn sie an dir vorbeigehen, nur ihr gepresstes Atmen zu hören und ihr Rufen um Durchlass; und falls du doch ein Gesicht erhaschst, siehst du, ihr Blick ist nach innen gerichtet, achtend auf ihren Rücken, das Kreuz und die Last.
Zufällig einmal, in der Nähe vom Großen Bazar, geriet ich in die Gasse der Lasten-Träger und sah: Sie hocken auf ihren Trag-Gestellen, warten auf Arbeit. Andere, sah ich im Vorbeigehen, saßen in Untergeschossen, die einzusehen sind von der Straße aus; an langen Tischen saßen sie und aßen aus Näpfen, alle dasselbe Gericht, so dass ich mich fragte: Ob sie vielleicht organisiert sind? Später dann erfuhr ich: Auch diese Knochenarbeit ist fest in den Händen bestimmter Clans, und in ihren Genuss kommt nur, wer irgendwie dazugehört.
Hasan stellt die Flaschen vor meiner Wohnungstür ab, buyurun , bitte sehr!
Ich greife in eine der Tüten, will ihm zum Dank zwei Hände voll Kirschen geben; und sehe, als ich sie ihm reiche, seinen fragenden Blick. Kirschen würden ihn freuen, dachte ich, da sie, obwohl Sommer ist, Kirschenzeit also, nicht billig sind in der Stadt und für ihn wohl eher rar. Aber Hasan hätte lieber, sehe ich jetzt, keine Kirschen haben wollen.
Nächstes Mal, wenn er mir das Wasser nach Hause trägt, werde ich ihm nicht geben, was dann gerade reif ist, Aprikosen, Pfirsiche, Pflaumen, Weintrauben, sondern was er von mir, der ausländischen Frau, wahrscheinlich erhofft hat: Geld.
JOGHURT IM RUCKSACK
Wirst du, wenn du eines Tages über Istanbul schreibst, auch über uns und unsere Liebe schreiben?
Die Frage meines Geliebten erschreckte mich, weil er sie nach unserem ersten Streit stellte. Obwohl es im Grunde genommen nur eine Verstimmung war wegen eines ausgelaufenen Bechers Joghurt im Rucksack.
Dabei hatte der Tag so strahlend begonnen, mit Sonnengeglitzer auf Bosporus und Marmara Meer. Über Nacht hatte der zauberische Lodos Dunst- und Dreckschleier verblasen, so dass wir am Morgen sagten: Lass uns mit dem Schiff nach Anadolu Kavağı fahren und dort picknicken! Was in der Küche noch war, packten
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