Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
gemocht werden wollen. Vielleicht lächelt sie deswegen so viel.
Jakob, der sich von Maries Lächeln angezogen fühlt (von ihrem Schmollmund, von dem leicht schief stehenden Eckzahn, von den drei Sommersprossen auf ihrer Nasenspitze, von dem Grübchen auf ihrer linken Wange), flirtet los und scherzt sich vor. Als Marie eine Zigarette aus dem Päckchen zieht, gibt er ihr Feuer, weil es sich so gehört, auch wenn er selbst nicht mehr raucht. Und während er ihr beim Rauchen und Reden, beim Gestikulieren und Lächeln zusieht, muss er plötzlich an Sonja denken, daran, wie sie jetzt auf ihrem gelben Sofa sitzt und auf seinen Anruf wartet, das Handy auf dem Designercouchtisch, den Blick auf den Flachbildschirm geheftet, Sonntagabend, es lebe Rosamunde Pilcher, es lebe die Liebe! Heute sind sie nicht wie sonst jedes Wochenende im Wienerwald gewesen, heute hatte der Radiosprecher Regen vorhergesagt, da hat er sagen können, dass er ohnehin noch ins Labor muss, worauf Sonja beleidigt dreingeschaut hat.
Sonja und er, das passt einfach nicht mehr. Die Liebe ist aus, abgebrannt, zu Asche zerfallen, wie der Inhalt des immer voller werdenden Kaffeehausaschenbechers. Alles, was bleibt, sind braune Stummel, geknickt und verformt. Sonja will Spaziergänge im Wienerwald, Sonja will ein Kind, Sonja will Verantwortung übernehmen. Jakob hingegen kann sich ein Leben mit Sonja nicht mehr vorstellen, schon gar kein Leben zu dritt. Also lässt er sich von Maries tanzendem Grübchen ins Kaffeehaus zurückholen. Wovon redet sie eigentlich? Er muss ihr eine Weile zuhören, bevor er den Faden wiederaufnehmen kann, aber sie scheint ohnehin nicht auf kluge Bemerkungen zu warten. Ja, nicht einmal auf ein zustimmendes Nicken. In hastigen Sätzen erzählt sie von sich, von ihrer Arbeit als Lehrerin für Französisch, Psychologie und Philosophie, von ihrer ersten Maturaklasse (keiner ihrer Schüler ist durchgefallen, was für eine Erleichterung!), und davon, wie froh sie ist, die neue Direktorin noch weitere sechs Wochen nicht sehen zu müssen.
»Und du? Was machst du?«
Jakob grinst. Muss daran denken, dass sein Vater sich nichts sehnlicher wünschen würde, als ihn vor einem Haufen junger Leute an der großen grünen Tafel stehen zu sehen, Formeln schreibend, erklärend.
»Ich arbeite gerade an meiner Dissertation, Quantenteleportation auf lange Distanz«, sagt er, und schon hat er Angst, sie zu langweilen, aber sie sieht ihn nur aus großen Augen an und fragt: »Quantentele… wie? Davon hab ich ja noch nie etwas gehört.«
Also erzählt auch er von seiner Arbeit, von dem kleinen Labor unter der Donau, von den Glasfaserkabeln im Wiener Kanalsystem und den Sendestationen und Empfängerstationen mit den Namen Alice und Bob. Von den Lichtteilchen, die er verschränkt, und von den Auswirkungen, die ihre Forschung auf die Zukunft haben wird.
»Wenn du willst, zeig ich dir das Labor. Natürlich nur, wenn es dich interessiert.«
»Und ob es das tut!«, versichert Marie eilig.
So leicht also sichert man sich ein Wiedersehen.
Jakob und Marie, Marie und Jakob. Wenn es den kleinen Liebesgott mit den Pfeilen auf dem Rücken wirklich geben sollte, dann sieht er jetzt zufrieden drein und lächelt noch einmal in die Runde, bevor er sich zu seinem nächsten Auftrag begibt.
Als das Kaffeehaus schließt, spazieren sie durch die Stadt, den gleichen Weg, den Marie auf ihrer Flucht vor dem Regen genommen hat, an Kirchen und Palais vorbei, unter Torbögen durch, hinunter zum Ring, wo jetzt keine Mückenschwärme mehr fliegen. Marie wickelt ihre Arme enger um den Körper, und Jakob, der keine Jacke dabeihat, die er ihr anbieten kann, legt seinen Arm um ihre Schultern, zieht sie heran und sagt: »Du hast ja eine Gänsehaut.« Sonja vor dem Flachbildschirm hat er vergessen oder vielleicht auch nicht, vielleicht verdrängt er ihr Bild nur aus seinem Kopf. Er will jetzt nicht über seine Beziehung nachdenken. Also geht er, seinen Arm um Maries Schultern gelegt, den Donaukanal entlang, über die Brücke zum Augarten, um den Augarten herum, in die Castellezgasse hinein, die Stiegen hinauf und in Maries Wohnung, wo sich sofort eine Katze an seine Unterschenkel schmiegt und laut klagend ihr Futter fordert. Jakob schüttelt das Tier ab und drückt Marie an sich, diese wunderbar fremde Marie, diese wunderbar lächelnde, duftende Marie, er presst seine Lippen auf die ihren und schiebt seine Zunge in ihre Mundhöhle, komm her, geh nicht weg, doch sie stößt sich von
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