Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa (German Edition)
Finanzvermögen, in der jetzigen Situation spürbare Konsolidierungsbeiträge zu leisten, um dem Staat eine nachhaltige Ankurbelung der Realwirtschaft zu ermöglichen. Für die »Reichen an Geld« (Rentiers) ist dies viel wichtiger als für die »Reichen an Realkapital« (Unternehmer), da Erstere den größten Teil der Staatsanleihen halten (direkt oder indirekt in Form von Investitions- oder Pensionsfonds). Die Deckung der Staatsanleihen besteht nämlich im künftigen Wirtschaftswachstum und den daraus erfließenden Staatseinnahmen sowie den dadurch vermiedenen Sozialausgaben.
These 7: Wenn die »Reichen an Geld« darauf bestehen, dass der Staat seine Schulden an sie durch eine wachstumsdämpfende Verringerung der Staatsausgaben abzahlt, dann verlangen sie eine logische Unmöglichkeit. Den Arbeitnehmern muss nämlich zuerst die Chance gegeben werden, gemeinsam mit den Unternehmern die Schulden des Staates gegenüber den »Reichen an Geld« abzutragen. Wenn nicht, wäre ein partieller Staatsbankrott, im optimalen Fall eine gemeinsam von allen EU -Staaten koordinierte Umschuldung (= Ausgleichsverfahren) unvermeidlich. Dann werden die Finanzrentiers viel mehr verlieren als wenn sie jetzt kräftig zur Konsolidierung beitragen.
These 8: Das politische Haupthindernis für eine Stärkung der Realwirtschaft besteht darin, dass Unternehmen/Unternehmer wie Arbeitnehmer auch (kleine) »Reiche an Geld« sind. In ihrer Eigenschaft als Finanzrentiers werden sie sich gegen Konsolidierungsbeiträge wehren (die großen wie Siemens ebenso wie die kleinen Sparer). Sie begreifen nicht, dass ihre Beiträge als Teil einer expansiven Gesamtstrategie ihnen selbst in ihrer Eigenschaft als Unternehmer oder Arbeitnehmer nützen würden.
These 9: Ist der erste Schock am Beginn einer Krise vorbei, so reagieren die Eliten mit dem Versuch, das Unangenehme zu verleugnen oder zu verdrängen. Gleichzeitig steigt das Bedürfnis nach Sicherheit. Beides stärkt die Tendenz, zum Status quo ante zurückzukehren, also jene Bedingungen wiederherzustellen, die vor der Krise herrschten. Dieses paradoxe Verhaltensmuster – es haben ja eben diese Bedingungen zum Heranwachsen der Krise beigetragen – steht einem Lernen aus der Krise entgegen. Die Abkehr der Eliten von ihren unter Schockeinwirkung gemachten Reformversprechen und der Übergang zu »Wir machen weiter wie vorher« verdeutlichen diese Lernhemmung. Genau deshalb vertieft sich die Systemkrise und verstärkt den Leidensdruck – allerdings bei den sozial Schwachen und nicht bei den (ökonomischen) Eliten, deren Nach-Denken eine Überwindung der Krise ermöglichen würde. Überdies sind Tempo und Gründlichkeit des Lernens bei den ökonomischen Eliten aus einem zweiten Grund schwach ausgeprägt: Es fällt ihnen besonders schwer, sich von der alten Weltanschauung und den darauf basierenden Modellen zu lösen.
These 10: In einer hartnäckigen Krise nimmt die Tendenz des »Rette sich wer kann« auch im Verhältnis der Länder zueinander zu. Mehrere Faktoren werden die Zentrifugalkräfte in der EU stärken: Die Länder haben umso weniger Möglichkeit, die Folgen der Krise zu bekämpfen, je geringer ihr wirtschaftliches Entwicklungsniveau und je prekärer daher die soziale Lage der Menschen ist. Denn diese Länder zahlen für die öffentlichen Schulden viel höhere Zinsen als die »reichen« Länder wie Deutschland. Auch sind die einzelnen EU -Länder durch ein Gefangenendilemma quasi gelähmt: Betreibt jedes einzelne Land eine expansive Politik, so fließen gut 50 Prozent der Impulse ins Ausland. Machen alle EU -Länder dies gemeinsam, so stärken sie sich wechselseitig. Gleichzeitig muss die expansive Gesamtstrategie in den Ländern mit (hohen) Leistungsbilanzüberschüssen und relativ günstiger Lage der Staatsfinanzen stärker ausgeprägt sein als in den Problemländern. Fazit: Gebraucht wird das Konzept eines koordinierten »New Deal« für Europa und ein Leadership der PolitikerInnen, dieses umzusetzen.
2. Der langfristige Aufbau des Potenzials für die große Krise
Die große Krise stellt das Endprodukt des Wandels von realkapitalistischen zu finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen dar (gewissermaßen die Frucht aus neoliberaler Blüte). Dieser Wandel vollzog sich in mehreren Etappen (Schulmeister, 1998):
Die Aufgabe des Systems fester Wechselkurse (1971), die beiden massiven Entwertungen des Dollars (1971/ 1973 sowie 1977/79) und die dadurch mitverursachten Ölpreisschocks waren die
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