Mitternacht
dunkel, sicher und dunkel.
4
Sam hatte sich mit einer Decke und einem Kissen ein Bett auf dem langen Sofa im Wohnzimmer gemacht, welches direkt an die Diele im Erdgeschoß angrenzte. Er wollte im Erdgeschoß schlafen, damit er wach würde, falls jemand eindringen wollte. Dem Plan zufolge, den Sam auf dem VDT im Streifenwagen gesehen hatte, sollte Harry Talbot erst am kommenden Abend verwandelt werden. Er bezweifelte, daß sie ihren Plan beschleunigen würden, weil sie wußten, daß sich ein FBI-Agent in Moonlight Cove aufhielt. Aber er konnte keine unnötigen Risiken eingehen.
Sam litt häufig an Schlaflosigkeit, aber das machte ihm in dieser Nacht nicht zu schaffen. Nachdem er die Schuhe ausgezogen und sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, lauschte er ein paar Minuten dem Regen und versuchte, an nichts zu denken. Wenig später schlief er ein.
Er träumte von Karen, seiner verstorbenen Frau, die, wie immer in seinen Alpträumen, im Endstadium ihrer Krebskrankheit war, ausgezehrt aussah und Blut spuckte, nachdem die Chemotherapie versagt hatte. Er wußte, er mußte sie retten. Er konnte es nicht. Er kam sich winzig, ohnmächtig und schrecklich ängstlich vor.
Aber der Alptraum weckte ihn nicht.
Schließlich verlagerte sich der Traum vom Krankenhaus in ein dunkles und verfallenes Gebäude. Es sah aus wie ein von Salvador Dali entworfenes Hotel: Die Flure zweigten wahllos ab; manche waren kurz, andere so lang, daß man ihr Ende nicht sehen konnte; Wände und Böden befanden sich in surrealistischen Winkeln zueinander, die Türen zu den Zimmern waren von unterschiedlicher Größe, manche so klein, daß nur eine Maus durchgekonnt hätte, andere groß genug für einen Menschen, wieder andere in einem Maßstab, der einem sechs Meter großen Riesen genügt hätte.
Er fühlte sich zu bestimmten Zimmern hingezogen. Wenn er sie betrat, fand er in jedem eine Person aus seinem vergangenen oder gegenwärtigem Leben.
Er begegnete Scott in mehreren Zimmern und führte unbefriedigende, zusammenhanglose Unterhaltungen mit ihm, die alle mit einer unvernünftigen Feindseligkeit von Seiten Scotts endeten. Unterschiede in Scotts Alter machten den Alptraum noch schlimmer: manchmal war er ein mürrischer Sechzehnjähriger und manchmal zehn oder erst vier oder fünf. Aber er war in jeder Inkarnation entfremdet, kalt, reizbar und voll verzehrendem Haß. »Das ist nicht richtig, das stimmt nicht, so bist du nicht gewesen, als du jünger warst«, sagte Sam einem siebenjährigen Scott, und der Junge gab eine obszöne Antwort.
Scott war in jedem Zimmer, ohne Rücksicht auf sein Alter, von riesigen Postern von Black Metal-Rockern mit schwarzer Lederkleidung und Ketten umgeben, die satanische Symbole auf Stirn oder Handflächen zur Schau stellten. Das Licht war flackernd und seltsam. Sam sah in einer dunklen Ecke etwas lauern, eine Kreatur, von der Scott wußte, die der Junge nicht fürchtete, die Sam aber eine Heidenangst machte.
Aber auch dieser Alptraum weckte ihn nicht.
In anderen Zimmern dieses surrealistischen Hotels fand er sterbende Menschen, jedesmal dieselben - Arnie Taft und Carl Sorbino. Sie waren zwei Agenten, mit denen er gearbeitet hatte und die vor seinen Augen erschossen worden waren.
Der Eingang zu einem Zimmer war eine Autotür - die funkelnde Tür eines blauen 54er Buick, um genau zu sein. Dahinter fand er eine enorme Kammer mit grauen Wänden, in dem sich Fahrersitz, Lenkrad und Armaturenbrett des Autos befanden, und sonst nichts, gleich Teilen eines prähistorischen Skeletts, die auf einer weiten Fläche öden Sandes lagen. Eine grüngekleidete Frau saß am Steuer, sie hatte den Kopf von ihm abgewandt. Er wußte natürlich, wer sie war, und er wollte das Zimmer auf der Stelle verlassen, aber er konnte es nicht. Er wurde sogar zu ihr hingezogen. Er setzte sich neben sie, und plötzlich war er sieben Jahre alt, wie am Tag des Unfalls, aber er sprach mit der Stimme des Erwachsenen. »Hallo, Mom.« Sie drehte sich zu ihm um und zeigte, daß die rechte Seite ihres Gesichts eingedrückt war, ein Auge aus der Höhle gequetscht und Knochen durch die aufgeplatzte Haut ragten. In der Wange konnte man abgebrochene Zähne sehen, daher schenkte sie ihm nur ein halbes teuflisches Grinsen.
Und plötzlich waren sie, in der Zeit zurückgeschlendert, in ihrem wirklichen Auto. Vor ihnen auf der Autobahn raste der Betrunkene in seinem weißen Lieferwagen auf sie zu, raste über die durchgezogene, doppelte gelbe Linie und mit
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