Mitternacht
Medizinschränkchen nach etwas, womit sie die Schürfwunde behandeln konnte. Sie fand eine Flasche Jod mit verblaßtem Etikett, eine halb leere Rolle Pflaster und eine Packung Mullstücke, die so alt waren, daß die einzelnen Papierhüllen schon vergilbt waren. Der Mull selbst sah frisch und weiß aus, das Jod war auch von der Zeit nicht verdorben worden und noch kräftig genug.
Chrissie saß barfuß, in ihrer Toga und mit zerzaustem, trocknendem Haar auf dem heruntergeklappten Deckel der Toilette und ließ die Behandlung ihrer Verletzung stoisch über sich ergehen. Sie protestierte nicht und schrie nicht vor Schmerzen auf - verzog nicht einmal eine Miene.
Aber sie redete. »Das war das zweite Mal, daß ich von einem Dach gestürzt bin, daher nehme ich an, ich habe einen Schutzengel, der über mich wacht. Vor etwa eineinhalb Jahren, im Frühling, bauten diese Vögel - ich glaube, sie werden Stare genannt - ein Nest auf dem Dach eines unserer Ställe daheim, und ich mußte einfach sehen, wie die Babyvögel in dem Nest aussahen, daher nahm ich eine Leiter, als meine Eltern nicht in der Nähe waren, und wartete darauf, bis die Vogelmama davonflog, um Essen zu holen, und dann kletterte ich ganz schnell hinauf, um sie mir anzusehen. Ich kann Ihnen sagen, bevor sie ihre Federn bekommen, sind Babyvögel so ziemlich das Häßlichste, das man sich vorstellen kann - ausgenommen natürlich Außerirdische.
Sie waren runzlige, faltige kleine Dinger, nur Schnäbel und Augen und kleine Stummelflügel, wie mißgebildete Arme.
Wenn menschliche Babys nach der Geburt so schlimm aussehen würden, hätten die ersten Menschen vor ein paar Millionen Jahren ihre Neugeborenen das Klo runtergespült - wenn sie ein Klo gehabt hätten -, und hätten nicht gewagt, weitere zu bekommen, und damit wäre die ganze menschliche Rasse ausgestorben, bevor sie richtig angefangen hätte.« Tessa betupfte die Verletzung immer noch mit Jod und bemühte sich erfolglos, nicht zu grinsen, und sie sah auf und stellte fest, daß Chrissie die Augen fest zudrückte, die Nase rümpfte und sich größte Mühe gab, tapfer zu sein.
»Dann kamen Mama- und Papavogel zurück«, sagte Chrissie, »sahen mich an dem Nest und flogen mir kreischend ins Gesicht. Ich bin so erschrocken, daß ich ausrutschte und vom Dach fiel. Damals habe ich mir überhaupt nicht weh getan - aber ich bin in Pferdemist gelandet. Das ist überhaupt nicht witzig, ich kann Ihnen sagen. Ich liebe Pferde, aber sie wären noch liebenswerter, wenn man ihnen beibringen könnte, eine Kiste zu benützen, so wie Katzen.» Tessa war vernarrt in das Kind.
20
Sam stützte die Ellbogen auf den Küchentisch, beugte sich vor und hörte Chrissie Fester aufmerksam zu. Tessa hatte die Schreckgespenster zwar im Cove Lodge beim Töten gehört und einen unter der Tür ihres Zimmers hindurch gesehen, und Harry hatte sie bei Nacht und Nebel aus der Ferne beobachtet, und Sam hatte gestern nacht zwei vor dem Fenster von Harrys Wohnzimmer gesehen, aber das Mädchen war die einzige unter ihnen, die sie mehrmals aus nächster Nähe gesehen hatte.
Doch Sam schenkte ihr nicht nur wegen ihres einmaligen Erlebnisses seine Aufmerksamkeit. Er war fasziniert von ihrer unbeschwerten Art, ihrem Humor und ihrer Redegewandtheit. Sie besaß offensichtlich bemerkenswerte innere Kraftreserven und echte Zähigkeit, sonst hätte sie die vergangene Nacht und die Ereignisse dieses Vormittags nicht überlebt. Und doch blieb sie bezaubernd unschuldig, zäh, aber nicht hart. Sie gehörte zu den Kindern, die einem Hoffnung für die ganze verdammte Menschheit geben.
Ein Kind wie Scott eins gewesen war.
Daher war Sam so fasziniert von Chrissie Foster. Er sah das Kind in ihr, das Scott gewesen war. Bevor er... sich verändert hatte. Er betrachtete das Mädchen mit einem Bedauern, das so stark war, daß es sich als dumpfe Schmerzen in der Brust und einen Kloß im Hals manifestierte, und hörte ihr zu, aber nicht nur, um die Informationen zu bekommen, die sie preiszugeben hatte, sondern mit der unrealistischen Erwartung, daß er begreifen könnte, weshalb sein Sohn Unschuld und Hoffnung verloren hatte, wenn er sie studierte.
21
Tucker und seine Meute schliefen in der Dunkelheit im Keller der Ikarus-Kolonie nicht, denn das brauchten sie nicht. Sie lagen zusammengerollt in der undurchdringlichen Schwärze. Von Zeit zu Zeit paarten er und das andere Männchen sich mit dem Weibchen, sie zerrten mit wilder Wut aneinander, rissen Reisch auf,
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