Shannara III
Kapitel 1
Ein Wechsel der Jahreszeiten stand den vier Ländern bevor, als der Spätsommer langsam in den Herbst überging. Dahin waren die langen, stillen Tage der Jahresmitte, da brodelnde Hitze den Gang des Lebens verlangsamte und das Gefühl herrschte, für alles ausreichend Zeit zu haben. Hing auch die Sommerwärme noch in der Luft, so wurden die Tage allmählich kürzer, die feuchte Luft wurde trockener und die Erinnerung an die Unmittelbarkeit des Lebens erwachte von neuem. Überall waren Anzeichen des Übergangs zu erkennen. In den Wäldern von Shady Vale begann das Laub bereits, sich zu verfärben.
Brin Ohmsford blieb an den Blumenbeeten stehen, die den Weg auf der Vorderseite ihres Hauses begrenzten, und verlor sich sogleich im hochroten Blattwerk des alten Ahorns, der den Hof dahinter überschattete. Es war ein gewaltiges Exemplar mit breitem, knorrigem Stamm. Brin lächelte. Dieser Baum war für sie die Quelle vieler Kindheitserinnerungen. Unwillkürlich trat sie vom Weg und ging hinüber zu dem betagten Baum.
Sie war ein hochgewachsenes Mädchen - größer als ihre Eltern oder ihr Bruder Jair, fast so groß wie Rone Leah - und obgleich ihr schlanker Körper irgendwie auch zart wirkte, war sie so kräftig wie die anderen auch. Jair würde in diesem Punkt freilich widersprechen, doch nur deshalb, weil er schon genügend Probleme damit hatte, seine Rolle als Jüngster anzunehmen. Letzten Endes blieb ein Mädchen ein Mädchen.
Ihre Finger strichen sanft über die rauhe Ahornrinde, liebkosten sie, und ihr Blick wanderte hinauf in das Ästegewirr über ihr. Langes, schwarzes Haar strömte von ihrem Gesicht, und es konnte kein Zweifel bestehen, wessen Kind sie war. Vor zwanzig Jahren hatte Eretria genauso ausgesehen wie ihre Tochter jetzt, vom dunklen Teint über die schwarzen Augen zu den weichen, zarten Gesichtszügen. Brin fehlte nur das feurige Temperament ihrer Mutter. Das hatte Jair geerbt. Brin hatte das Wesen ihres Vaters: kühl, selbstsicher und beherrscht. Als Wil Ohmsford einmal seine Kinder verglichen hatte - wozu eines von Jairs eher tadelnswerten Mißgeschicken ihm den Anlaß gegeben hatte - war ihm ziemlich wehmütig aufgefallen, daß Jair zu allem fähig war und Brin ebenso, sie allerdings erst nach reiflicher Überlegung. Brin wußte nicht mehr genau, wer bei dieser Strafpredigt damals den kürzeren gezogen hatte.
Sie ließ ihre Hände hinten an den Seiten ihres Körpers entlanggleiten. Sie erinnerte sich an das eine Mal, da sie das Wünschlied auf den alten Baum angewandt hatte. Sie war noch ein Kind gewesen und hatte mit dem Elfenzauber herumexperimentiert. Es war Hochsommer gewesen, und sie hatte das Wünschlied eingesetzt, um das grüne Sommerlaub des Ahorns in herbstliches Feuerrot zu verwandeln. In ihrem kindlichen Denken fühlte sie sich dabei völlig im Recht, denn Rot war schließlich eine weit hübschere Farbe als Grün. Ihr Vater war wütend gewesen; der Baum hatte fast drei Jahre benötigt, um nach dem Schock wieder zu seinem natürlichen Rhythmus zu finden. Das war das letzte Mal gewesen, daß sie oder Jair, wenn ihre Eltern in der Nähe waren, Elfenzauber angewandt hatten.
»Brin, komm, hilf mir bitte, den Rest zusammenzupacken.«
Ihre Mutter rief nach ihr. Sie tätschelte den alten Ahorn ein letztes Mal und drehte sich zum Haus um.
Ihr Vater hatte dem Elfenzauber niemals ganz getraut. Vor etwas über zwanzig Jahren hatte er die Elfensteine, die ihm der Druide Allanon geschenkt hatte, bei seinen Bemühungen benutzt, die Erwählte Amberle Elessedil auf ihrer Suche nach dem Blutfeuer zu beschützen. Die Anwendung des Elfenzaubers hatte ihn verändert; das war ihm damals schon klar geworden, auch wenn er nicht gewußt hatte, wie das geschehen war. Erst nach Brins und später nach Jairs Geburt war offenkundig geworden, was sich ereignet hatte. Nicht in Wil Ohmsford würde sich der Wandel manifestieren, den der Zauber bewirkt hatte, sondern in seinen Kindern. Sie waren diejenigen, welche die sichtbaren Folgen der Zauberei in sich trugen - sie, und vielleicht alle kommenden Ohmsford-Generationen, obgleich bislang keine Möglichkeit bestand sicherzustellen, daß das auf den Zauber des Wünschliedes zutraf.
Brin hatte ihm den Namen Wünschlied gegeben. Wenn man etwas wünschte, wenn man es besang, erfüllte sich der Wunsch. So war es ihr erschienen, als sie zum ersten Mal entdeckte, daß sie die Kraft besaß. Sie erfuhr früh, daß sie das Verhalten von Lebewesen mit ihrem Lied zu
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