Mitternachtsflut
Sklaverei verschleppt, sie hatten die Hälfte seines Dorfes entweder getötet oder so demoralisiert, dass sie nur noch existierten und vor sich hin vegetierten. Der junge Mann kämpfte wie ein Löwe, für sein Volk, für seinen Vater vor allem aber für die Frau die er mehr als alles andere liebte. Sie war ein stolzes und ungestümes Wesen, sehr schön war sie außerdem, mit einem sehr eigenen Kopf und starkem Willen. Lange hielt sie an seiner Seite durch, lange kämpfte sie unglaublich tapfer mit ihm gemeinsam für die Würde ihres Volkes – doch es war ein sinnloser Kampf, ein schwerer Kampf.
Wann immer sie es überhaupt nicht mehr aushielt, ging sie ins Meer, nur dort konnte sie einen fairen Kampf ausfechten – sie gegen die Gewalt der Natur.
Sie liebte das Meer über alles – und offensichtlich liebte auch das Meer sie, denn es ließ sie immer wieder gewinnen. Bis zu jener Vollmondnacht, als am Morgen Soldaten gekommen waren, als sie wieder junge Frauen und Männer mitgenommen hatten, um sie auf das Festland zu schicken – als Geschenk für „Ihre Katholischen Majestäten“!! In jener Nacht tobte das Meer so als ob es selbst voller Hass und Zorn auf die Eindringlinge wäre. Riesige Wellen schlugen ans Ufer, so wütend und ungestüm, dass der junge Fürst seine Frau inständig bat, nicht ins Wasser zu gehen. Die Sonne war bereits am Untergehen und die Flut hatte eingesetzt. Ein rotgoldener Schein tauchte alles in trügerische Idylle. Seine Frau versprach ihm, in dieser Nacht das Meer zu meiden. Also kümmerte er sich um seinen kranken Vater und tröstete die Familien der Verschleppten. Als er nur kurze Zeit später nach seiner Frau suchte, war sie verschwunden. Eigentlich kein Anlass zur Sorge, doch an jenem Tag war etwas anders. Man sagt, dass sie die Erniedrigungen nicht mehr mitansehen konnte, dass sie die Trauer in den Augen ihres Mannes, den sie über alles liebte, nicht mehr sehen konnte, dass sie in ihrer Hilflosigkeit keinen Ausweg mehr sah. Sie forderte das Einzige heraus, das sie in einem ehrlichen Kampf besiegen hätte können – das Meer!“ Manolo wanderte unruhig hin und her, schließlich ging er vor Marie in die Knie und ergriff ihre Hände.
„Er suchte sie überall, schließlich fand er sie, weit draußen, der Strömung ausgeliefert, immer wieder versank sie in den Wellen. Sie kämpfte nicht mehr, sie hatte sich etwas geschlagen gegeben, das sich als ebenbürtiger Gegner erwiesen hatte. Der Kraft und Stärke des Ozeans. Er sprang ihr nach und versuchte sie zu retten, doch es war zu spät. Die tückische Strömung der Mitternachtsflut hatte sie weit auf den Atlantik hinaus gezogen. Nur noch tot konnte er seine stolze Frau aus den Wellen ziehen. Sie hatte den Tod gewählt der ihrer ebenbürtig war, einen guten Tod! Die Königin war zu ihrem Element zurück gekehrt.“
„La Reina del Mar“, flüsterte Marie.
Manolo sah sie schweigend an, dann nickte er. „Ja, so haben sie sie genannt, die Königin des Meeres.“
Er erhob sich und nahm seine unruhige Wanderung wieder auf. „Ihr Tod wurde zu einer Legende. Seit jenem Tag erzählt man sich, dass immer wieder in den seltenen Nächten der Mitternachtsflut, genau dann wenn die Flut um Mitternacht ihren Höhepunkt erreicht, wenn das Meer besonders wild tobt und sich eine Frau trotzdem in die Brandung wagt, der junge Fürst erscheint, auf der Suche nach der Seele seiner geliebten Frau. Er sucht sie in jeder wagemutigen Schwimmerin, die hinaus schwimmt und dem Meer die Stirn bietet. Es ist jetzt fast 30 Jahre her, dass er das letzte Mal erschien.“ Manolo unterbrach seine unruhige Wanderung und blickte nachdenklich in die Schlucht hinaus. „Sie hieß Marysol, ein hübsches und mutiges Mädchen und sie schwor einen Eid bei der Heiligen Jungfrau, dass sie dem jungen Fürsten begegnet war. Fast täglich wanderte sie daraufhin zum Ufer hinunter, auf der Suche nach dem schönen, jungen Guanchen, doch er ließ sich nie mehr sehen. Sie war wohl nicht die Richtige gewesen. “Manolo lächelte versonnen und traurig zugleich in sich hinein. „La Loca, la pobre Loca, die arme Verrückte nannten die Menschen sie nur noch, als sie Nacht für Nacht verzweifelt nach einem Geist suchte.“
Er setzte sich wieder neben Marie auf die Liege und strich geistesabwesend über die Decke. „Aber noch niemals hat jemand etwas von ihm mitgebracht. Noch nie hat der sagenhafte Fürst der Guanchen etwas zurück gelassen. Und dies hier ist ganz gewiss nichts aus
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