Mitternachtsflut
Marie.
„Woher hast du das? Wer hat dir das gegeben? Diese Decke dürfte eigentlich gar nicht existieren!? Nun, das heißt, sie dürfte nicht mehr existieren.“
Das war des Guten zu viel. Marie brach in Tränen aus. Lange hatte sie um Fassung gerungen, doch nun bahnten die Ereignisse und geballten Gefühle der letzten Nacht sich ihren Weg. Hätte Manolo sie nicht geistesgegenwärtig aufgefangen, ihre Beine hätten einfach unter ihr nachgegeben. Vorsichtig setzte Manolo sie auf eine kleine Liege unter den Blumenranken und unter Tränen erzählte sie ihm langsam und immer wieder stockend die Geschehnisse der letzten Nacht. „Manolo, er sah aus wie du, wie du als junger Mann. Er hatte deine Augen, ja eigentlich auch Stimme und dein Lächeln. Bitte, ich glaube ich werde verrückt, aber da ist doch die Decke. Ich kann es mir also nicht eingebildet haben. Manolo, bitte hilf mir. Ich verstehe das alles nicht, was ist hier nur los?“ Wieder brach Marie in Tränen aus und Manolo nahm sie liebevoll in die Arme. Lange schwieg er und streichelte ihr nur beruhigend und liebevoll über den Rücken. Erst als ihre Tränen endlich einigermaßen versiegt waren, schob er sie ein wenig von sich und sah sie lange und nachdenklich an. „Nein, Marie, du wirst nicht verrückt.
Und die Geschichte die ich dir jetzt erzählen werde, hättest du als rational denkende, moderne Frau mir sicher nie geglaubt, wenn du nicht das erlebt hättest, was in der letzten Nacht geschehen ist. Hör mir jetzt sehr gut zu und ich bitte dich, unterbrich mich nicht, denn es ist wichtig, dass du alles hörst und alles verstehst, willst du das tun?“
Marie nickte. Manolo nahm die Decke vorsichtig auf, legte sie Marie in den Schoss und schloss ihre Hände darüber. Es dauerte ein wenig, bis Manolo begann zu sprechen. Es war offensichtlich, dass er nach den richtigen Worten suchte.
Doch dann begann er zu erzählen.
Kapitel 7
„Diese Decke darfst du nie wieder hergeben – denn diese Decke ist über 500 Jahre alt. Solche Decken fertigten unsere Vorfahren auf dieser Insel. Du kennst die Geschichten über die Guanchen? Sie waren handwerklich unglaublich geschickt. Ihre Tongefäße waren herrlich, ihre Tücher fein und traumhaft schön. Ihr Schmuck war einfach und doch von einer unglaublichen, natürlichen Schönheit. Sie nutzten Muscheln, Steine, Treibholz, was immer das Meer ihnen bot. Sie lebten hier relativ friedlich, nun ja eigentlich sehr friedlich. Kleine Stammes- und Machtkämpfe wie Männer sie ausfechten müssen, kamen immer wieder vor, doch das war minimal. Sie hatten eine eigene Sprache, selbst die Pfeifsprache die du heute noch von La Gomera kennst, geht auf sie zurück. Sie züchteten Ziegen, betrieben auf der fruchtbaren Erde Ackerbau und glaubten, sie hätten mit diesen Inseln ihr eigenes, uneinnehmbares Paradies gefunden.“
Bei diesen Worten stand Manolo plötzlich auf und atmete schwer. Es schien ihm nicht leicht zu fallen weiter zu sprechen, doch Marie erinnerte sich seiner Anweisung und schwieg geduldig. Als Manolo sich wieder umwandte, war ein wütendes Leuchten in seinen blauen Augen. Nur mühsam beherrscht, fuhr er mit seiner Erzählung fort. „Doch um 1400 brach der Schrecken mit Schwertern und Hellebarden ins Paradies ein. Ein Mann namens Jean de Béthencourt begann das, was Alonso Fernandez de Lugo gegen 1495 blutig beendete. Sie unterwarfen, töteten, versklavten und verschleppten die friedliebenden Insulaner. Sie entmachteten ihren König und ihre Fürsten. Der Franziskanermönch San Diego de Alvalá missionierte sie im Auftrag der Kirche und zerstörte damit ihren Stolz, ihre Kultur und ihr Erbe.“ Manolo spuckte das Wort „missionierte“ regelrecht aus. Tiefer Hass glomm in seinen Augen und Zorn sprühte aus seinem Gesicht. „Viele der Stammesfürsten wurden verschleppt, um ihr Volk zu demoralisieren, zu entmutigen.“ Manolo stockte kurz. Es schien ihm schwer zu fallen, hier weiter zu sprechen. Erst nachdem er tief Luft geholt hatte, fuhr er fort. Aber Marie sah den schmerzhaften Ausdruck in seinem Gesicht nur zu gut. „Auch hier in der Schlucht von Masca hatte eine große Gruppe glücklich und friedlich gelebt. Ihre Namen kann ich dir nicht mehr sagen – sie wurden ausgelöscht, ebenso wie man versuchte, die Erinnerung an sie auszulöschen. Der regierende Fürst hatte einen jungen, stolzen Sohn, der alles versuchte, um dem Vater zu helfen. Die Spanier hatten seine Mutter vor aller Augen vergewaltigt und in die
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