Spiel des Schicksals
1
»Da ist ein Anruf für dich! Jenny löst dich ab, damit du ans Telefon gehen kannst.«
Mrs. Cathcart wartete geduldig, während ich Dr. Kellerman eine Arterienklemme reichte. Ohne den Blick vom Operationstisch zu wenden, antwortete ich: »Ich möchte jetzt lieber nicht weggehen. Wer ist am Telefon? Kann ich nicht zurückrufen?«
»Ich glaube nicht, Lydia. Es ist deine Schwester Adele, die aus Rom anruft. Sie sagt, es sei dringend.«
Überrascht hob ich den Kopf und schaute die Oberschwester, meine Vorgesetzte, an. »Italien?« entfuhr es mir. »Sind Sie sicher?«
»Das hat die Telefonistin gesagt. Aus Rom. Ein Ferngespräch und noch dazu dringend. Jenny macht für dich weiter.« In diesem Augenblick ließ sich Dr. Kellermans barsche Stimme vernehmen: »Schnell!« rief er. »Die Herztätigkeit setzt aus!« Ich warf einen raschen Blick auf den Kardiographen. Das Gerät registrierte keinen Pulsschlag mehr. Augenblicklich zog sich Mrs. Cathcart zurück und machte Platz für die Leute vom Rettungsteam, die sich, aufgeregt durcheinanderrufend, um den Operationstisch drängten. Von ferne meldete eine gleichgültige Stimme über Lautsprecher: »Code Blue in den OP. Code Blue in den OP. Code Blue in den OP.« Sogleich waren die Gedanken an Adele und Rom wie weggeblasen, und ich wandte mich wieder voll meiner Arbeit zu. Dr. Kellerman war dabei, das Herz des Patienten abzutasten. Ich öffnete rasch sterile Spritzen mit Adrenalin und Natriumbikarbonat. Scheinbar aus dem Nichts wurden die Elektroden des Defibrillators zu mir heraufgereicht, und man vernahm das Geräusch von zerreißendem Stoff. Irgend jemand deckte das Bein des Patienten auf und entblößte einen Knöchel zum Legen eines Einschwemmkatheters. Jemand schrie: »Zurücktreten! Los!« Der Körper auf dem Operationstisch sprang in die Höhe. Die Linie auf dem Bildschirm des Kardiographen blieb gerade. »Wir müssend noch mal versuchen. Zweihundert Volt diesmal. Alle Mann zurück! Los!« Noch immer keine Veränderung auf dem Bildschirm. »Noch eine Ampulle Natriumbikarbonat. Lydia, halt die Elektroden. Laß sie nicht los! Habt ihr die Blutgruppe von dem Mann bestimmt und die Kreuzprobe gemacht? Bringt ein paar Blutkonserven her! Und daß ihr mir noch kein Wort zu der Familie sagt! Lydia, die Elektroden! Fertigmachen. Los!« Alle starrten erwartungsvoll auf das Meßgerät. Man vernahm einen Piepston und gleich darauf einen zweiten. Der dritte Piepston kam verspätet. Die Linie auf dem Bildschirm schwankte und zitterte. »In Ordnung. Noch einmal. Wir müssen das Kammerflimmern abstellen. Los!«
Diesmal wirkte es. Die zweihundert Volt aus dem Defibrillator hatten das Herz wieder zum Schlagen gebracht. Klinisch war der Patient dreieinhalb Minuten lang tot gewesen.
»In Ordnung, das war’s. Ihr könnt gehen.« Dr. Kellermans Stimme klang sicher und beruhigend. »Laßt ein Bett von der Intensivstation kommen. Dieser Patient muß beobachtet werden. Lydia, das Nahtmaterial für die Bauchhöhle bitte.«
Als ich ihm Nadel und Faden in die Hand gab, warf mir Dr. Kellerman ein kurzes Lächeln zu. Sein Blick sagte soviel wie: Der hier war schon ganz nahe dran, Mädchen, aber wir habend geschafft! Langsam verließ die Rettungsmannschaft den OP. Wir blieben wieder allein in Saal zwei zurück und führten die Operation ruhig zu Ende. Doch jetzt war die Stimmung anders, denn wir waren besorgt und dachten an nichts anderes als an den Patienten und sein Leben. Unsere Anspannung ließ erst nach, als er sicher in dem Bett von der Intensivstation lag und über den Flur weggerollt wurde. Ich betrachtete das Durcheinander um mich her: die Haufen von blutigen Tupfern, die überall verstreut liegenden Instrumente und leeren Spritzen, der sonderbar aussehende Wagen mit den Herzmeßgeräten. Nach einer Operation beeindruckte es mich jedesmal aufs neue, wie sehr der OP einem Schlachtfeld glich, das jetzt verlassen dalag. Und als ich angesichts der lästigen Reinigungsarbeiten, die mir bevorstanden, widerwillig den Kopf schüttelte, schaute Mrs. Cathcart nochmals in den Saal.
»Lydia, mach mal eine Pause. Jenny hat angeboten, für dich sauberzumachen. Geh und erledige deinen Anruf.«
Ich blickte auf. Natürlich, Adele in Rom. Ein dringender Anruf. Das hatte ich völlig vergessen. Mit einer Hand, die von dem Operationshandschuh ganz verschwitzt war, hielt ich den Hörer ans Ohr, während ich mit der anderen nervös an der Maske zerrte, die mir um den Hals baumelte.
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