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Mitternachtsflut

Mitternachtsflut

Titel: Mitternachtsflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Ketterl
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sich Marie, wohin all die zahllosen Touristen, die täglich am Flughafen Reina Sofia im Süden ihrer neuen Wahlheimat ankamen, eigentlich verschwanden. Es mussten wohl hauptsächlich die zahllosen Hotelbunker im Süden der Insel sein, die dort wie Geschwüre aus dem Boden geschossen waren. Während Marie am Transportband geduldig auf ihre Tasche wartete, dachte sie ärgerlich an ihre geliebte kleine Bucht in Adeche. Als sie vor vielen Jahren zum ersten Mal dorthin gekommen war, gab es noch nichts außer ein paar kleine Häuser in denen nur Canarios wohnten und zwei Bodegas, in denen der schmackhafteste Zackenbarsch der Welt serviert worden war. Nach dem Essen lag sie damals, mit ihrer Freundin Chrissie, lang ausgestreckt im warmen, schwarzen Lavasand und bewunderte die Milliarden von Sternen über ihnen. Das war heute Geschichte. Fünf- Sterne-Hotels säumten den ehemals so schönen und verlassenen Strand. Viel zu viele Touristen kamen und hinterließen eine zerstörte Natur. Darüber konnten auch die vielen künstlichen Blumenrabatten nicht hinwegtäuschen. Ach, was sollte es. Solange sie ihren geliebten Norden der Insel nicht so unkontrolliert mit Menschen fluteten, würde sie es schon aushalten. Sie griff sich ihre Tasche, die gerade gemächlich vorüberzuckelte, vom Band und verließ auf dem schnellsten Weg das Flughafengebäude. Als sie gerade in ihren Hosentaschen nach dem Autoschlüssel angelte, hörte sie hinter sich eine vertraute Stimme. „Marie?? Bist du das wirklich?“ Lächelnd wandte sie sich um. Humbertos kleiner Bruder Raul kam strahlend angelaufen. Martialisch sah er aus, in seiner Militäruniform und dem Bürstenhaarschnitt. „Raul, haben sie dir etwa schon wieder die Haare geschnitten? Aber was soll's, die Uniform steht dir gut!“ „Ja, nicht wahr? Ich sehe richtig erwachsen aus!“ Raul war sichtlich stolz auf sein Outfit. Es gab Marie einen Stich ins Herz, wenn sie daran dachte, dass dieser fröhliche und freundliche, gerade mal 19 Jahre alte Junge, wenn es drauf ankam schon in ein Paar Wochen in irgendein Kriegsgebiet geflogen werden konnte. Kein schöner Gedanke. Raul küsste sie lächelnd auf beide Wangen. „So mag ich das. Wenn ich mir ausnahmsweise nicht die dummen Bemerkungen meines Bruders anhören muss, sobald ich ne Frau auch nur ansehe.“ Er zog seinen Rucksack fest und nahm Marie ihre Reisetasche ab. „Marie, fährst du nach Puerto? Könntest du mich mitnehmen?“ „Aber sicher nehm ich dich mit. Ich fahre zwar gleich nach Hause, aber ich mach den Schlenker über euer Haus. Kein Thema.“ „Was? Nicht nach Puerto? Heute? Mensch Marie, du kannst heute nicht in dein Bergdorf. Heute ist das große Lagofest. Weißt du das denn nicht? Da sind doch alle. Jetzt komm, sei kein Spielverderber. Alle deine Freunde sind da!“ Marie lächelte, als Raul sie mit einem nicht enden wollenden Redefluss davon zu überzeugen suchte, dass das nun gar nicht ginge, dass sie an diesem Abend nicht dabei wäre.
    Eigentlich hatte er ja auch Recht. Das Fest im Lago, das jedes Jahr nur ein einziges Mal stattfand, war wirklich eines der Highlights – selbst für die Menschen die hier lebten. Dann trat die Flamencogruppe, die so ganz nebenbei aus exzellenten Tänzern aus dem In- und Ausland bestand, im Freien auf. Teile der riesigen Anlage waren abgesperrt und Bars und Buffets aufgebaut, an denen es wirklich alles gab, was das Herz begehrte. Die beste Band der Insel sorgte für traumhaft schöne Musik. Alleine die Atmosphäre mit den vielen Fackeln, Lampions und Kerzenlichtern war sehenswert, ganz zu schweigen vom Blick über den abendlichen Atlantik. Raul lag ganz richtig, alle ihre Freunde würden dort sein. Da sie vorhatte in der nächsten Zeit Manolo nicht von der Seite zu weichen und beim nächsten Mal keinen Fehler mehr zu begehen, was Miguelangel betraf, würde ein gemeinsamer Abend mit allen ihr nicht nur gut tun, sondern auch dafür sorgen, dass man sie nicht so rasch vermissen würde.
    Als Marie auf die Autostrada del Norte einbog, war ihre Entscheidung gefallen. „Raul, du hast mich überzeugt. Ich bleib heute Abend da.“ „Sehr gut! Exzellent. Da werden sich alle freuen.“ Raul freute sich sichtlich, dass er dafür gesorgt hatte, dass sie mitkam. „Sag mal Raul, denkst du, dass ich mich bei euch umziehen kann?“ „Klar, wenn ich zusehen darf!“ „Raul!!“ „Hey, das war ein Scherz. Klar kannst du das. Ich verzieh mich dafür sogar aus meinem Zimmer.“
    Nur zehn Minuten später

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