Mitternachtsflut
angerufen hatte, das musste Monate her sein. Nun kam das schlechte Gewissen doch hoch. „Mist, hatten wir so lange schon keinen Kontakt mehr? Ich bin ja eine schöne Freundin. Tut mir echt leid. Das muss wieder besser werden. Ich verspreche es!“
„Schon gut. Du bist eben weit weg und hast viel zu tun. Aber mal im Ernst und sei mir jetzt nicht böse, ja? Bist du sicher, dass du echt nicht auf diesen Manolo abfährst? Wenn du von ihm sprichst, dann verklärst du dich regelrecht. Der Mann würde mich echt interessieren. Hast du ein Bild dabei oder sowas?“
Während Sandra sprach, versuchte Marie, zum ersten Mal seit langer Zeit, sich wieder einmal darüber klar zu werden, was Manolo für sie bedeutete. Sie kramte nach der kleinen Mappe mit den Bildern, die sie extra zusammen gestellt hatte, um sie Sandra zeigen zu können. Endlich zog sie die kleine Präsentationsmappe aus ihrem Rucksack. „Ja, ich hab Bilder dabei. Von allen. Hier, schau ihn dir an. Das ist Vicente.“
„Oh Gott! Und so einen Mann lässt du vom Haken? Sag mal spinnst du? Der sieht ja aus wie so ein griechischer Halbgott!“ Sandra vergaß kurzzeitig sogar die Pizza.
Marie warf einen zweiten Blick auf das Bild des Freundes. Die langen dunklen Locken, das fröhliche Lächeln in dem schmalen, dunklen Gesicht und die tatsächlich fast glühenden Augen. Ja, Vicentes Augen konnten Funken sprühen. Aber vor ihrem geistigen Auge wurde das Bild Vicentes von einem anderen überlagert. Honigblonde Locken schoben sich in ihre Erinnerung und die fast schwarzen Augen wichen ganz langsam strahlend blauen Augen, die ein wenig aussahen als würden sie glitzern.
„Zugegeben er ist hübsch und ich mag ihn nach wie vor, aber es gibt da einen anderen. Ach hier ist es ja. Hier ist ein Bild von Manolo. Schau her. Wie findest du ihn?“ Marie schob die Mappe weiter zu Sandra, sodass die Freundin, das Bild Manolos besser sehen konnte. Manolo auf einer Klippe am Strand von Masca in seinem geliebten Jeanshemd, die Haare leicht vom Wind verweht und diese faszinierenden, blauen Augen mit einem weichen und liebevollen Blick auf ihre Kamera gerichtet. Klar galt der Blick ihr, dessen war sich Marie durchaus bewusst. Sandra sah sich das Bild lange an. Ihre Finger strichen nachdenklich über die Fotografie. „Marie, dir ist schon klar, dass der Mann dich liebt? So schaut man nur jemanden an, der einem verdammt viel bedeutet.“
„Ich liebe ihn auch, aber nicht so wie du denkst, oder vielleicht denkst.“ Noch während Marie diese Worte sagte, wurde ihr bewusst, wie wahr sie waren. Manolo war zu einem Eckpfeiler ihres Lebens geworden. Er war ein fester Teil ihres Lebens, ein wichtiger Teil. „Manolo ist meine Familie, so einfach ist das“. Sie lächelte Sandra an, die noch immer das Bild betrachtete. „Ein faszinierender Mann. Ich möchte ja nicht wissen, wie der ausgesehen hat, als er jung war. Mein lieber Jolly, ich denke den hätte ich auch nicht von der Bettkante geschubbst. Und wo bitte ist ein Bild von dem „Neuen“ der sich „ergeben“ hat?“ Sandra grinste herausfordernd. Marie bekam den Bogen hervorragend hin. „Von dem gibt es noch kein Bild, aber um auf deine Bemerkung zurück zu kommen. Stell dir Manolo in jung vor, so sieht Miguelangel aus.“ „Respekt. Armer Vicente, das war's dann wohl für ihn.“ Marie verdrehte etwas ratlos die Augen. „Bei dir klingt das immer so, na ja, so hart. Komm mich doch einfach mal besuchen, das kriegen wir hin. Im Notfall rechne ich dich als meine Fotoassistentin ab. Dann hast du die Kohle wieder drin.“ Man konnte sehen, wie es hinter Sandras Stirn arbeitete. „Guter Plan, könnt ich mich mit anfreunden. Und mit deinem Vicente erst recht. Und jetzt iss endlich deine Pizza auf. Ich kann nicht sehen, wenn gutes Essen kalt wird!“ Während Marie sich ihrem Essen widmete, wanderten ihre Gedanken zurück nach Teneriffa, zurück zu Manolo. Er fehlte ihr jetzt schon. Sie konnte kaum erwarten ihn wieder zu sehen.
Als die beiden Mädels mehrere Stunden später kichernd aus dem „Last Cathedral“ purzelten, hatte der Plan, dass Sandra zu ihr kommen sollte Gestalt angenommen.
Es würde schön sein, die Freundin ein wenig um sich zu haben. Die Zukunft sah wieder einmal ziemlich rosig aus – fehlte nur ein klitzekleines Detail, das ihr doch Sorge bereitete. Der geheimnisvolle Guanche, ohne den sie nicht mehr leben wollte. Das konnte nur Manolo in die Hand nehmen.
Der nächste Tag verlief mit Cafébesuchen, Shopping
Weitere Kostenlose Bücher