Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
mit einem früheren Ich zu vereinigen, das nichts von ihrem Einfluss wusste, aber alles kannte, was es wissen sollte, Unterwerfung beispielsweise, das, was er nun tat, als seine Hände, von alten Erinnerungen geführt, nach oben flogen, die Daumen sich auf die Ohren pressten und die Finger sich spreizten, als er auf die Knie sank –«... Führe uns auf den rechten Weg, den Weg derer, denen du deinen Segen gewährt hast ...» Aber es hatte keinen Zweck, er war in einem seltsamen Zwischenreich gefangen, saß in der Falle zwischen Glauben und Unglauben, und dies war letzten Endes nur eine Scharade –«... die nicht dein Missfallen erregt haben und die nicht irre gegangen sind.» Mein Großvater beugte den Kopf zur Erde. Vornüber beugte er sich, und die Erde, vom Gebetsteppich bedeckt, wölbte sich nach oben, ihm entgegen. Und jetzt war die Zeit des Erdklumpens gekommen. Gleichzeitig ein Verweis von Ilse-Oskar-Ingrid-Heidelberg wie auch von Tal-und-Gott, schlug er ihn hart auf die Nasenspitze. Drei Tropfen fielen. Rubine und Diamanten gab es. Und sich aufrichtend, fasste mein Großvater einen Entschluss. Stand da. Rollte einen Stumpen. Starrte über den See.
Und wurde für immer in dieses Zwischenreich gestoßen, unfähig, einen Gott zu verehren, dessen Existenz er nicht ganz bezweifeln konnte. Bleibende Veränderung: ein Loch.
Der junge, frisch promovierte Doktor Aadam Aziz stand da, blickte auf den frühlingshaften See und witterte den Geruch von Veränderung, während sein (äußerst gerader) Rücken noch mehr Veränderungen zugewandt war. Sein Vater hatte während Aadams Auslandsaufenthalt einen Schlaganfall gehabt, und seine Mutter hatte das verheimlicht. Die Stimme seiner Mutter, die stoisch flüsterte: «... weil dein Studium zu wichtig war, Sohn.» Diese Mutter, ihr Leben lang ans Haus gebunden, in der Abgeschiedenheit des Purdah, hatte plötzlich die enorme Kraft gefunden, ihre vier Wände zu verlassen, um das kleine Edelsteingeschäft (Türkise, Rubine, Diamanten) zu führen, das zusammen mit einem Stipendium Aadams Medizinstudium ermöglicht hatte; so kehrte er zurück und fand die anscheinend unwandelbare Ordnung seiner Familie auf den Kopf gestellt. Seine Mutter ging zur Arbeit, während sein Vater hinter dem Schleier verborgen saß, den der Schlaganfall über seinen Verstand geworfen hatte ... auf einem Holzstuhl, in einem verdunkelten Raum saß er und machte Vogelgeräusche. Dreißig verschiedene Arten von Vögeln besuchten ihn, saßen draußen auf dem Sims vor seinem mit Läden verschlossenen Fenster und unterhielten sich über dieses und jenes. Er schien ganz glücklich zu sein.
(... Und schon kann ich sehen, wie die Wiederholungen losgehen, denn fand nicht auch meine Großmutter enorme ... und der Schlaganfall war auch nicht der einzige ... und auch das Messingäffchen hatte seine Vögel ... schon beginnt der Fluch, und wir sind noch nicht einmal zu den Nasen gekommen!)
Der See war nicht mehr zugefroren. Das Tauwetter war wie gewöhnlich schnell gekommen; viele der kleinen Boote, der Schikaras, waren im Schlummer überrascht worden, was ebenfalls normal war. Aber während diese Faulpelze auf dem Trockenen weiterschliefen und friedlich neben ihren Besitzern schnarchten, war das älteste
Boot, wie alte Leute oft, im Nu auf und das erste Fahrzeug, das sich über den aufgetauten See bewegte. Tais Schikara ... auch das war üblich.
Seht, wie der alte Fährmann Tai schnell den Weg über das vom Nebel umspielte Wasser zurücklegt, vornübergebeugt am Heck seines Bootes stehend! Wie sein Ruderblatt, ein hölzernes Herz an einer gelben Stange, sich ruckweise durch die Wasserpflanzen bewegt! Weil er im Stehen rudert, wird er in dieser Gegend für höchst sonderbar gehalten ... und auch noch aus anderen Gründen. Tai, der Doktor Aziz eine dringende Botschaft überbringt, wird gleich die Geschichte in Gang setzen ... während Aziz, der ins Wasser hinabschaut, sich ins Gedächtnis ruft, was Tai ihn vor Jahren lehrte: «Das Eis wartet immer, Aadam Baba, direkt unter der Haut des Wassers.» Aadams Augen sind von einem klaren Blau, dem erstaunlichen Blau des Berghimmels, das in die Pupillen der Menschen von Kaschmir herabzutröpfeln pflegt; sie haben nicht vergessen, wie man sieht. Sie sehen – dort!, direkt unter der Oberfläche des Dalsees, wie das Skelett eines Geistes – das zarte Flechtwerk, das verschlungene Netz farbloser Linien, die kalten wartenden Adern der Zukunft. Seine deutschen Jahre,
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