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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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die so vieles andere ausgelöscht haben, haben ihn nicht der Gabe des Sehens beraubt. Tais Gabe. Er blickt auf, sieht das sich nähernde V von Tais Boot, winkt einen Gruß. Tais Arm hebt sich – aber das ist ein Befehl. «Warte!» Mein Großvater wartet; und in dieser Spanne, in der er den letzten Frieden seines Lebens, einen konfusen, bedenklichen Frieden, erlebt, mache ich mich am besten daran, ihn zu beschreiben.
    Ich unterdrücke in meiner Stimme den natürlichen Neid des hässlichen Menschen auf das auffallend Eindrucksvolle und berichte, dass Doktor Aziz ein großer Mann war. Flach an eine Wand seines Elternhauses gepresst, maß er fünfundzwanzig Ziegel (ein Ziegel für jedes Lebensjahr) oder etwas mehr als ein Meter fünfundachtzig. Auch ein starker Mann war er. Sein Bart war dicht und rot – und ärgerte seine Mutter, die sagte, nur Hadschis, Männer,
die die Wallfahrt nach Mekka gemacht hatten, sollten sich rote Bärte wachsen lassen. Sein Haupthaar jedoch war sehr viel dunkler. Über seine Himmelsaugen wissen Sie Bescheid. Ingrid hatte gesagt:«Sie haben sich mit den Farben ausgetobt, als sie dein Gesicht gemacht haben.» Aber das Hauptmerkmal der Anatomie meines Großvaters war weder Größe noch Farbe, weder Muskelkraft noch Geradheit des Rückens. Hier war es, spiegelte sich im Wasser, wogte wie eine groteske Banane mitten in seinem Gesicht ... Aadam Aziz betrachtet, während er auf Tai wartet, seine sich kräuselnde Nase. Sie hätte auch ein weniger dramatisches Gesicht als das seine leicht beherrscht, und selbst bei ihm sah man sie zuerst und erinnerte sich ihrer am längsten. «Eine Cyranase», sagte Ilse Lubin, und Oskar fügte hinzu: «Ein Proboscissimus.» Ingrid verkündete: «Auf dieser Nase könnte man einen Fluss überqueren.» (Ihr Rücken war breit.) Meines Großvaters Nase: Ihre Nasenflügel blähen sich, kurvenreich geschwungen wie Tänzerinnen. Zwischen ihnen wölbt sich der triumphale Bogen der Nase, zuerst auf- und auswärts, dann hinab und einwärts, die derzeit rot getupfte Spitze in einem prachtvollen Schwung zur Oberlippe hin gebogen. Mit dieser Nase war es einfach, einen Erdklumpen zu treffen. Ich möchte meine Dankbarkeit gegenüber diesem mächtigen Organ, diesem kolossalen Apparat, der auch mein Geburtsrecht sein sollte, schriftlich niederlegen – wenn diese Nase nicht gewesen wäre, wer hätte mir je geglaubt, dass ich wirklich meiner Mutter Sohn, meines Großvaters Enkel war? Doktor Aziz’ Nase – vergleichbar nur dem Rüssel des elefantenköpfigen Gottes Ganesch – begründete unbestreitbar sein Recht, ein Patriarch zu sein. Auch das lehrte ihn Tai. Als der junge Aadam gerade die Pubertät hinter sich gebracht hatte, sagte der verlotterte Fährmann: «Mit der Nase kann man eine Familie gründen, mein Prinzchen. Da gäbe es keinen Zweifel, wer die Brut gezeugt hat. Die Mogul-Kaiser hätten ihre rechte Hand für so eine Nase gegeben. In ihr warten Dynastien» – und hier wurde Tai grob –«wie Rotz.»
    Bei Aadam Aziz nahm die Nase also ein patriarchalisches Aussehen an. Bei meiner Mutter sah sie edel und ein wenig kummervoll aus, bei meiner Tante Emerald snobistisch; bei meiner Tante Alia intellektuell; bei meinem Onkel Hanif war sie das Organ eines erfolglosen Genies, mein Onkel Mustapha machte sie zum Instrument eines zweitklassigen Schnüfflers; das Messingäffchen entging ihr vollkommen; aber bei mir – bei mir war sie etwas vollkommen anderes. Aber ich darf nicht alle meine Geheimnisse auf einmal enthüllen.
    (Tai kommt langsam näher. Er, der die Macht der Nase offenbarte und nun meinem Großvater die Botschaft bringt, die ihn in seine Zukunft katapultieren wird, rudert seine Schikara über den frühmorgendlichen See ...)
    Niemand konnte sich erinnern, wann Tai jung gewesen war. Schon immer versah er den Fährdienst auf den Seen Dal und Nageen mit demselben Boot und stand in derselben vornübergebeugten Haltung. Wenigstens, soviel man wusste. Er lebte irgendwo in den schmuddeligen Eingeweiden des alten Holzhüttenviertels, und seine Frau zog Lotoswurzeln und andere seltsame Gemüse in einem der vielen «schwimmenden Gärten», die im Frühling und Sommer auf der Wasseroberfläche wippten. Tai selbst gab fröhlich zu, dass er keine Ahnung hatte, wie alt er war. Seine Frau wusste es auch nicht – er sei, sagte sie, schon lederartig gewesen, als sie heirateten. Sein Gesicht war eine Skulptur wie von Wind auf Wasser: Kräuselwellen aus ledriger Haut. Er

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