Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Menge, die dichte Menge, die unendliche Menge, die anschwillt, bis sie die Welt erfüllt, ein Fortkommen unmöglich, wir werden unser Taxi und die Träume seines Fahrers im Stich lassen und uns zu Fuß auf den Weg machen, hindurch durch die wimmelnde Menge, und ja, ich werde von Padma getrennt werden, mein Dunglotos wird einen Arm über die stürmische See hinweg nach mir ausstrecken, bis sie in der Menge untergeht und ich allein bin in der Unermesslichkeit der Zahlen, die Zahlen marschieren eins zwei drei, ich werde von rechts und von links geknufft, während
das Reißen Fetzen Knirschen seinen Höhepunkt erreicht, und mein Körper schreit gellend, er kann diese Behandlung nicht mehr ertragen, doch nun sehe ich vertraute Gesichter in der Menge, sie sind alle hier, mein Großvater Aadam und seine Frau Naseem, und Alia und Mustapha und Hanif und Emerald und Amina, die Mumtaz war, und Nadir, der Qasim wurde, und Pia und Zafar, der Bettnässer war, und auch General Zulfikar, sie drängen sich um mich und stoßen schieben drücken, und die Risse weiten sich, Stücke meines Körpers fallen ab, da ist Jamila, die ihr Nonnenkloster verlassen hat, um an diesem letzten Tag dabei zu sein, es wird Nacht, ist Nacht geworden, ein Countdown ticktackt auf Mitternacht zu, Feuerwerk und Sterne, die aus Pappe ausgeschnittenen Figuren von Ringern, und ich erkenne, dass ich Kaschmir nie erreichen werde, wie Jehangir, der Mogulherrscher, werde ich mit Kaschmir auf den Lippen sterben, ohne das Tal der Wonnen sehen zu können, wohin Menschen gehen, um das Leben zu genießen oder es zu beenden oder beides; denn nun sehe ich weitere Gestalten in der Menge, die Furcht erregende Gestalt eines Kriegshelden mit todbringenden Knien, der herausgefunden hat, wie ich ihn um sein Geburtsrecht betrog, er kommt auf mich zu, bahnt sich seinen Weg durch die Menge, die nun ganz aus bekannten Gesichtern besteht, da ist Rashid der Rikschajunge Arm in Arm mit der Rani von Cooch Naheen und Ayooba Shaheed Farooq mit Mutasim dem Schönen, und aus einer anderen Richtung, der Richtung von Hadschi Alis Inselgrab, sehe ich eine mythische Erscheinung näher kommen, den Schwarzen Engel, doch als er sich mir nähert, ist sein Gesicht grün, sind seine Augen schwarz, er trägt einen Mittelscheitel, zur Linken grün, zur Rechten schwarz, seine Augen sind die Augen von Witwen; Shiva und der Engel rücken näher und näher heran, ich höre Lügen in der Nacht, alles, was du sein willst, kannst du sein, die größte Lüge von allen, ein Spalten jetzt, die Teilung Saleems, ich bin die Bombe in Bombay, seht, wie ich explodiere, Knochen splittern brechen unter dem entsetzlichen Druck der Massen, Haut
und Knochen fallen hinab hinab hinab, genauso wie einst auf dem Jallianwala, aber Dyer scheint heute nicht anwesend zu sein, kein Jod, nur eine gebrochene Kreatur, die Stücke von sich selbst über die Straße verstreut, denn ich bin so viele, zu viele Personen gewesen, das Leben, anders als die Syntax, gesteht einem mehr als drei zu, und endlich schlägt irgendwo eine Uhr, zwölf Glockenschläge, Erlösung.
Ja, sie werden mich unter ihren Füßen zertrampeln, die Zahlen marschieren eins zwei drei, vierhundert Millionen fünfhundertundsechs zermahlen mich zu stimmlosen Staubkörnern, genauso wie sie, alles zu seiner Zeit, meinen Sohn zertrampeln werden, der nicht mein Sohn ist, und seinen Sohn, der nicht seiner sein wird, bis die tausendunderste Generation, bis tausendundeine Mitternacht ihre schrecklichen Gaben verliehen hat und tausendundein Kind gestorben ist, denn es ist das Vorrecht und der Fluch von Mitternachtskindern, sowohl Herr als auch Opfer ihrer Zeit zu sein, dem Eigenleben zu entsagen und in den zerstörerischen Strudel der Massen gesogen zu werden und nicht in Frieden leben und sterben zu können.
Die Originalausgabe erschien 1981 unter dem Titel
Midnight’s Children bei Jonathan Cape, London.
1. Auflage
Genehmigte Taschenbuchausgabe Januar 2014
Copyright © 1981 Salman Rushdie
All rights reserved.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 btb Verlag in
der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei Karin Graf.
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotive: © Andy Goodwin/Gallerystock
MI · Herstellung: sc
eISBN: 978-3-641-11813-6
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