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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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wieder neugeboren. Nachdem das Tal einen Winter lang in einer Eischale aus Eis herangereift war, hatte es sich feucht und gelb seinen Weg ins Freie gepickt. Das junge Gras wartete seine Zeit unter der Erdoberfläche ab; die Berge zogen sich für die warme Jahreszeit in ihre luftigen Erholungsorte zurück. (Im Winter, wenn das Tal unter dem Eis schrumpfte, drängten die Berge heran und grollten um die Stadt am See wie wütend aufgerissene Rachen.)
    In jenen Tagen war der Sendemast noch nicht gebaut, und der Tempel von Sankara Acharya, eine kleine schwarze Blase auf einem staubfarbenen Hügel, beherrschte noch die Straßen und den See von Srinagar. In jenen Tagen gab es am Ufer des Sees noch kein Armeelager; keine endlosen Schlangen von Lastern und Jeeps in Tarnfarben verstopften die schmalen Bergstraßen, keine Soldaten versteckten sich hinter den Berggipfeln jenseits von Baramulla und Gulmarg. In jenen Tagen wurden Reisende nicht als Spione erschossen, wenn sie Brücken fotografierten, und das Tal hatte sich, abgesehen von den Hausbooten der Engländer auf dem See, trotz seiner frühjährlichen Erneuerungen seit dem Mogul-Reich kaum verändert; die Augen meines Großvaters aber – die wie alles übrige an ihm fünfundzwanzig Jahre alt waren – sahen die Dinge anders ... und seine Nase hatte angefangen zu kribbeln.
    Um das Geheimnis der veränderten Sehweise meines Großvaters zu offenbaren: Er hatte fünf Jahre, fünf Frühlinge, fern von zu Hause verbracht. (Der Erdklumpen war im Grunde nicht mehr als ein Katalysator, wenn auch seine Gegenwart, als er unter einer zufälligen Falte im Gebetsteppich kauerte, entscheidend war.) Bei seiner Rückkehr nun sah er alles durch weit gereiste Augen. Anstelle der Schönheit des winzigen, von Riesenzähnen umschlossenen Tals bemerkte er nun die Beschränktheit und unmittelbare Nähe des Horizonts; und er war traurig, zu Hause zu sein und sich so vollkommen eingeschlossen zu fühlen. Er hatte auch – ihm unerklärlich  – das Gefühl, der gewohnte Ort weise ihn ab, weil er gebildet und mit Stethoskop ausgestattet zurückkam. Unter dem Wintereis war er kühl neutral gewesen, aber jetzt bestand kein Zweifel mehr: Die Jahre in Deutschland hatten ihn in eine feindliche Umgebung zurückkehren lassen. Lange Zeit später, als das Loch in ihm vor Hass verkrampft war und er kam, um sich vor dem Schrein des schwarzen steinernen Gottes im Tempel auf dem Hügel zu opfern, sollte er versuchen, sich an die Frühlinge seiner Kindheit im Paradies zu erinnern, daran, wie es war, bevor Reisen und Erdklumpen und Panzer alles durcheinander brachten.
    An dem Morgen, an dem das Tal, mit einem Gebetsteppich wie mit einem Handschuh bekleidet, ihm einen Nasenstüber versetzte, hatte er widersinnigerweise versucht, so zu tun, als hätte sich nichts geändert. So war er in der um Viertel nach vier herrschenden bitteren Kälte aufgestanden, hatte die vorgeschriebenen Waschungen vorgenommen, sich angezogen und die Astrachanmütze seines Vaters aufgesetzt; danach hatte er den zu einem Stumpen zusammengerollten Gebetsteppich in den kleinen Garten vor ihrem alten, dunklen Haus am Seeufer gebracht und ihn über dem wartenden Klumpen ausgebreitet. Der Boden unter seinen Füßen trat sich trügerisch weich und machte ihn gleichzeitig unsicher und unvorsichtig.«Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen ...» – der Einleitungsteil, bei dem er die Hände wie ein Buch gefaltet vor sich
hielt, tröstete einen Teil in ihm, beunruhigte aber einen anderen, größeren –«... Preis sei Allah, dem Herrn der Welten ...» – aber nun kam ihm Heidelberg in den Sinn; dort war Ingrid, kurze Zeit seine Ingrid, und ihr Gesicht drückte Verachtung aus für sein nach Mekka gewandtes geistloses Plappern; dort ihre Freunde Oskar und Ilse Lubin, die Anarchisten, die seine Gebete mit ihren Antiideologien verspotteten –«... Dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts ...!» – Heidelberg, wo er zusammen mit Medizin und Politik gelernt hatte, dass Indien – wie das Radium – von den Europäern «entdeckt» worden war; selbst Oskar war von Bewunderung für Vasco da Gama erfüllt, und das hatte Aadam Aziz letztendlich von seinen Freunden getrennt, ihr Glaube, dass er irgendwie die Erfindung ihrer Vorfahren sei –«... dir allein dienen wir, und zu dir allein flehen wir um Beistand ...» – hier war er also und versuchte, obwohl sie ihm nicht aus dem Kopf gingen, sich wieder

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