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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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vieren in die Wohnheime zurückkehrten. Einige gingen auch ganz allein, hatten die Hände in die Taschen geschoben oder um Rucksackriemen geklammert, den Blick zu Boden gerichtet. Sie wären leichte Opfer gewesen – weit weg von ihren Familien und Freunden zu sein war schwer für sie, und diese einsamen kleinen Seelen hatten nur ihre Musik, die ihnen Gesellschaft leistete. Vor mir schimmerten sie leicht, in Blautönen, in Aquamarin oder in wässrigem Grün, in all den Farben meiner Augen. Doch seit dem letzten war zu wenig Zeit verstrichen, als dass ich in Versuchung geraten wäre. Ich fühlte mich immer noch stark, lebendig, unbesiegbar.
    Und da war James, in einer Vierergruppe, was mir ganz falsch vorkam. Meine anvisierten Opfer hatten niemals Freunde – die Musik war ihr Leben. Jemand wie
er
hätte nicht so locker im Umgang mit anderen Menschen sein dürfen. Hätte sich das nicht einmal wünschen sollen. Ich hätte daran gezweifelt, ob er das wirklich war, trotz des kurzgeschorenen braunen Haars und seines frechen, großspurigen Gangs. Der sattgelbe Fleck – übrigens meine Lieblingsfarbe –, der in ihm strahlte, schrie jedoch deutlich
Musik, Musik, Musik
.
    Nur mühsam konnte ich mich davon abhalten, hinzurennen und ihn zu zwingen, auf meinen Tauschhandel eingehen zu wollen. Oder ihm weh zu tun. Ihm sehr weh zu tun. Ich hatte da ein paar Ideen, die uns für eine ganze Weile beschäftigen würden.
    Geduld. Nimm dich zusammen.
    Also reihte ich mich hinter ihm und seinen Freunden ein und folgte ihnen unsichtbar. Wenn jemand auf den Gedanken gekommen wäre, sich etwas Mühe zu geben und auf die richtige Art hinzuschauen, hätte er mich wohl entdecken können, aber das tat niemand. Heutzutage tat das überhaupt niemand mehr, doch ich hatte von anderen Feen gehört, dass es nicht immer so gewesen war. Die wenigen Kinder, die mich jetzt erspürten und aufblickten, sahen nur Herbstlaub, das am Rand des Bürgersteigs aufgewirbelt wurde und in einer Spirale wieder zu Boden sank. Das war ich, immer ich: der unsichtbare Schauer in der Dämmerung, der unerklärliche Kloß in deiner Kehle, die ungebetene Träne bei längst vergessenen Gedanken.
    Während die Schüler an den Wohnheimen vorbeigingen, schmolz das Grüppchen auf zwei zusammen, denn die beiden Mädchen verschwanden in ihrem Gebäude. Nun konnte ich näher herangehen, so nah, dass sein Glühen auf meiner dämmrigen Haut schimmerte. Ich hätte ihn berühren und leuchtende Stränge von Musik aus seinem Kopf hervorziehen können. Wenn er doch nur ja gesagt hätte.
    James und der andere Junge unterhielten sich über Getränkeautomaten. Das Hauptmerkmal des anderen war ein unschuldsvolles, lächelndes Gesicht, und er führte Statistiken darüber an, wie viele Menschen pro Jahr von umkippenden Getränkeautomaten erschlagen würden.
    »Ich glaube nicht, dass sie sich absichtlich vor die Automaten werfen«, sagte James gerade.
    »Die haben Videomaterial gezeigt«, erwiderte der mondgesichtige Junge.
    »Nein, ich vermute, es gibt einen rächenden Automatenengel, der sie umstößt, wenn wieder mal so ein gieriger Kerl sein Geld an die Maschine verloren hat und keinen Spaß versteht.« James tat so, als stoße er etwas um, zog ein panisches Gesicht und machte dann ein schmatzendes Geräusch. »Das wird dir eine Lehre sein, Geizhals. Nächstes Mal findest du dich gefälligst damit ab, dass du deine fünfzig Cent verloren hast.«
    Mondgesicht: »Allerdings
gäbe
es gar kein nächstes Mal.«
    »Wie recht du hast. Wenn sie tot sind, hindert sie das wohl daran, das Gelernte umzusetzen. Streichen wir das. Sagen wir einfach, die Statistik zeigt, dass Getränkeautomatentragödien keine lehrreichen Geschichten sind, sondern eine Form der natürlichen Auslese.«
    Der mondgesichtige Junge lachte und schaute dann an James vorbei. »Hey, Mann, da starrt dich ein Mädchen an.«
    »Tun sie das nicht immer?«, entgegnete James, wandte trotzdem den Kopf und sah an mir vorbei zu jemand anderem hin. Das Gelb in ihm flackerte auf, wirbelte hoch, schlug mir wie eine Flamme entgegen, als bettelte es darum, dass ich es verwandelte. Doch sein Blick fand nicht mich; er blieb an einem blassen Mädchen hängen. Es hatte schwarzes Haar, das Gesicht war bleich, wie ausgewaschen vom künstlichen Licht einer Straßenlaterne, und die Finger zupften nervös am Riemen seines Rucksacks. Irgendetwas fehlte in James’ Stimme, als er zu dem Mondgesicht sagte: »Ich komme gleich nach, okay? Die ist von

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