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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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meiner alten Schule.«
    Nachdem er das Mondgesicht losgeworden war, ging James durch die Lichtkreise der Straßenlaternen zu der jungen Frau hin. Sie war von schwach orangerot glimmenden Fäden durchzogen, wie neonfarbenes Lametta. Vermutlich hätte sie eine gute Schülerin abgegeben, wenn ich nicht junge, attraktive, männliche Schüler bevorzugen würde.
    James’ Stimme klang sehr tapfer, ganz lustig und stark, obwohl die Gedanken, die ich von ihm empfing, völlig chaotisch waren. »Hey, Psycho, was gibt’s?«
    Sie lächelte, was ärgerlich nett wirkte – ich hatte für hübsche Menschen meines eigenen Geschlechts nicht viel übrig –, und zog ein seltsames, zerknautschtes, reumütiges Gesicht. Auch das sah ärgerlich niedlich aus. »Ich wollte gerade hoch in mein Zimmer gehen. Aber ich bin hier entlanggegangen, weil ich immer, äh, nie … weil ich den Springbrunnen noch nie beleuchtet gesehen habe. Und das wollte ich gern sehen.«
    Ja, klar. Du bist hergekommen, um ihn zu sehen, willst es aber nicht zugeben. Schon gut. Hör auf, dich zu zieren.
Ich funkelte sie finster an. James neigte leicht den Kopf in meine Richtung, als lauschte er, und ich rückte ein paar Schritte von ihnen ab. Doch bei meiner plötzlichen Bewegung schaute die Kleine abrupt auf. Ihr Blick folgte mir, und sie runzelte die Stirn, als könnte sie mich sehen. Mist. Ich beugte mich vor, als wollte ich mir den Schuh zubinden – als wäre ich eine ganz normale Schülerin und für alle sichtbar. Ihr Blick war nicht mehr gezielt auf mich gerichtet, nachdem ich mich gebückt hatte – sie konnte mich also nicht ganz sehen. Sie musste einen Anflug des Zweiten Gesichts haben. Auch das ärgerte mich.
    »Dee«, sagte James. »Erde an Dee. Planet Dee, bitte kommen. Houston, die Funkverbindung funktioniert anscheinend nicht. Dee, Dee, bitte melden!«
    Dee riss sich von mir los und sah James an. Sie blinzelte heftig. »Äh. Ja. Entschuldigung. Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen.« Sie hatte eine sehr schöne Stimme. Vermutlich war sie eine gute Sängerin. Ich hörte auf, mir vorgeblich den Schuh zuzubinden, und ging sehr langsam auf den Brunnen zu, um mich im Wasser zu verstecken. Hinter mir hörte ich James etwas sagen, und Dee lachte. Es klang erleichtert, als hätte sie lange nichts Lustiges mehr gehört und wäre froh, dass so etwas wie Humor noch existierte.
    Ich legte mich in den Brunnen – da ich unsichtbar war, spürte ich die Nässe nicht – und blickte zum Himmel auf, der sich hinter dem leicht gekräuselten Wasser allmählich verdunkelte. Ich fühlte mich sicher im Wasser, vollkommen unsichtbar, vollkommen geschützt.
    Dee und James kamen an den Rand des Satyrbrunnens und blieben direkt über mir stehen, nah beieinander, aber ohne sich zu berühren. Eine verborgene Barriere trennte sie voneinander, eine Wand, die sie errichtet hatten, ehe ich auf den Plan getreten war. Die ganze Zeit machte James Witze. Er ließ einen bedeutungslosen, lustigen Spruch nach dem anderen vom Stapel und brachte sie immer wieder zum Lachen, so dass sie nicht miteinander reden mussten. Seine Qual hätte ein wunderschönes Lied abgegeben. Ich musste ihn einfach irgendwie dazu bringen, auf meinen Handel einzugehen.
    Dee und James starrten den Satyr an, der zurückgrinste und für immer in seinem Tanz auf einem winzigen Eichenblatt mitten im Wasser gefangen war. »Ich habe dich üben gehört«, bemerkte Dee.
    »Überwältigt von meiner Kunstfertigkeit?«
    »Ich glaube tatsächlich, dass du noch besser geworden bist, seit ich dich zuletzt spielen gehört habe. Kann das sein?«
    »Durchaus. Dies ist eine wunderbare, seltsame Welt.« Er zögerte. Im Wasser fiel es mir leichter, seine Gedanken zu lesen. Ich sah, wie sich in seinem Gehirn die Frage formte:
Wie fühlst du dich hier?
Stattdessen sagte er: »Abends wird es schon ganz schön kalt.«
    »In unserem Zimmer wird es eiskalt!« Dee klang zu enthusiastisch, sie war offenbar froh über das unverfängliche Thema. »Wann stellen die hier wohl endlich die Heizung an?«
    »Vielleicht ist es sogar besser, wenn sie damit ein bisschen länger warten. Wenn sie jetzt schon heizen würden, wäre es tagsüber in den Zimmern heiß genug, um Marshmallows zu toasten.«
    »Das stimmt. Nachmittags ist es noch richtig warm. Das muss an den Bergen liegen.«
    Ich beobachtete, wie James mit sich rang, ehe er sie aussprach: die ersten von Herzen kommenden Worte, seit er Dee unter der Straßenlaterne entdeckt hatte. »Die Berge

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