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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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sind wunderschön, findest du nicht? Es macht mich irgendwie traurig, sie anzuschauen.«
    Dee antwortete nicht, reagierte überhaupt nicht. Wenn er nichts Lustiges sagte, war es beinahe so, als hätte er gar nicht gesprochen.
    Sie entfernte sich von ihm, ging um den Rand des Brunnens herum. Er folgte ihr nicht. Ganz dicht bei meinen Füßen tauchte sie die Hände ins Wasser und sagte: »Dieser Brunnen ist echt seltsam. Warum lächelt er so?«
    James streckte den Arm aus und tätschelte den Hintern des Satyrs. »Weil er nackt ist.«
    »Ich bin bloß froh, dass er vor dem Jungenwohnheim steht und nicht vor unserem. Ich finde ihn ziemlich scheußlich.«
    »Ich verschandle ihn für dich, wenn du willst«, bot James ihr an.
    Sie lachte. Wenn sie lachte, konnte ich mir beinahe vorstellen, wie sie sang. »Schon gut. Aber ich gehe jetzt lieber rein. Ich will nicht wieder von dieser irren Lehrerin erwischt werden. Eigentlich dürften wir nicht mehr draußen sein.«
    Er streckte die Hand aus, als wollte er ihre Hand nehmen. Oder ihren Rucksack. Oder sie am Arm berühren. »Ich begleite dich«, meinte er.
    »Ist schon okay. Ich renne zurück«, erwiderte Dee. »Wir sehen uns morgen, ja?«
    Die Haltung seiner Schultern wirkte auf einmal müde, und die Hand verschwand in seiner Tasche. »Zweifellos.«
    Dee lächelte ihm zu und rannte dann in Richtung Mädchenwohnheim, wobei der Rucksack auf ihrem Rücken hüpfte. Nachdem sie verschwunden war, blieb James noch lange am Brunnen stehen, so reglos wie der Satyr und mit halb geschlossenen Augen. Sein kurzgeschorenes Haar färbte sich im Licht des Sonnenuntergangs noch rötlicher. Ich lag im Wasser und wartete.
    Lange Minuten verstrichen, und die Sonne brannte sich ihren Weg durch die Bäume hinab. Immerzu betrachtete ich dieses goldene Glimmen, das in ihm flackerte, das Versprechen großartiger Kreativität.
Warum hatte er nicht ja gesagt?
Wollte ich ihn jetzt nur deshalb so sehr, weil er mich abgewiesen hatte? Ich konnte ihn unglaublich gut machen. Er konnte mich warm, lebendig und wach machen.
    Ich würde ihm einen Traum eingeben. Genau das würde ich tun. Ich würde ihm nur ein bisschen davon zeigen, was ich möglich machen konnte, und wenn er mich wiedersah, würde er unmöglich nein sagen können.
    Über mir fuhr James zusammen. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und lauschte wie vorhin, als er mich gespürt hatte. Jetzt vernahm er jedoch etwas anderes.
    Der Dornenkönig. Ich hörte, wie die Melodie über die Hügel strömte, während er sich dort seinen Weg bahnte. Meine Ohren hatten die Laute kaum wahrgenommen, doch als ich blinzelte, war James plötzlich verschwunden. Hastig richtete ich mich auf – das Wasser plätscherte in langsamen, konzentrischen Wellen um mich herum – und sah James aus voller Kraft rennen, als liefe er um sein Leben. Er jagte auf den gehörnten König und sein langsames Lied für die Toten zu. Wer rannte denn dem Tod entgegen?
     
    Lange nachdem James aus den Hügeln hinter der Thornking-Ash-Schule in sein Wohnheimzimmer zurückgekehrt war, machte ich mich selbst in die Hügel auf. Allerdings interessierte mich nicht die Musik des gehörnten Königs. Es war die Musik der Feen, die mich anzog – sie hörte sich nach einem Tanz an, so unwahrscheinlich das auch sein mochte.
    Ich hatte diese Tanzvergnügen noch nie gemocht. Wenn irgendetwas in der Geschichte dieser Welt wie dafür geschaffen schien, mir das Gefühl zu geben, eine Außenseiterin zu sein, dann waren das die Tänzchen, die die Feen in ihren Feenringen abhielten. Diese Feier auf dem größten Hügel hinter der Schule machte da keine Ausnahme – aber es waren zehnmal mehr Feen gekommen, als ich je bei einem solchen Reigen gesehen hatte. Und selbstverständlich konnte keine Fee, abgesehen von mir natürlich, Eisen berühren. Die bloße Nähe von Eisen trieb die meisten tief unter die Hügel und in abgelegene Landstriche. Ganz gleich, wie verlockend die Musik aus der Thornking-Ash für meinesgleichen sein mochte: Das viele unsichtbare Eisen, das die Gebäude stützte, und die schimmernden Autos auf den Parkplätzen hätten die Umgebung zur Feen-Flugverbotszone machen sollen.
    Dennoch waren da Hunderte in allen möglichen Größen und Formen, von den großen, bezaubernden höfischen Feen, die ich erwartet hatte, bis hin zu den kleinen, hässlichen Kobolden, die ich hier nicht vermutet hätte. Nur selten ließen diese ihre Plackerei sein und kamen aus ihren Höhlen, um bei einem Fest

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