1615 - Allee der Toten
Verflucht noch mal, da war es wieder, und ich konnte nichts dagegen unternehmen. Dabei hatte ich gedacht, nach meinem letzten Fall in Dundee ruhig und fest durchschlafen zu können. Das war mir leider nicht vergönnt. Dagegen hatte der moderne Störenfried - sprich Telefon etwas. Ob spät in der Nacht oder früh am Morgen, das melodische Bimmeln nahm keinerlei Rücksicht.
Ich wälzte mich mühsam auf die rechte Seite. Dort lag das Ding auf dem Nachttisch. Das Display leuchtete, gab aber nicht genug Helligkeit ab.
Ich knipste deshalb die Lampe an, dimmte das Licht aber ziemlich weit herunter.
Die Nummer des Anrufers sah ich nicht, als ich mich mit einem knurrenden Laut meldete.
Wenig später hörte ich eine Stimme, die mir ihre Frage stellte. »Sind Sie es, Sinclair?«
»Es kommt darauf an, wer etwas von mir will.«
»Ich muss mit Ihnen reden.«
»Um diese Zeit?«
»Ja, um diese Zeit. Es geht nicht anders.«
Ich legte mich nicht wieder hin, sondern blieb auf der Bettkante sitzen.
»Dann sagen Sie mir einfach Ihren Namen und was so wichtig ist, dass Sie mich mitten in der Nacht anrufen.«
»Ich heiße Frank Morgan.«
»Okay, das ist immerhin etwas. Und weiter?«
Zunächst war nur ein schnelles Atmen zu hören. Dann hatte er wieder die richtigen Worte gefunden, die mich allerdings auch nicht schlauer machten. »Ich habe sie gesehen.«
»Wen?«
»Die Toten. Die Allee der Toten. Alles entspricht den Tatsachen, was ich gehört habe.«
Jetzt kannte ich den Grund des Anrufs, kam damit aber nicht zurecht.
Trotzdem musste ich zugeben, dass meine Neugierde geweckt worden war.
»Sorry, Mr. Morgan, aber damit kann ich nichts anfangen, auch wenn es Sie enttäuscht.«
»Ja, ja, ich weiß. Deshalb rufe ich Sie ja an.«
»Sie wollen mir also erklären, was es mit dieser Allee der Toten auf sich hat.«
»So ist es.«
»Und worauf muss ich mich einstellen?«
»Auf etwas Unglaubliches. Auf etwas Schreckliches. Es ist einfach ungeheuerlich. Ich werde verrückt, wenn ich daran denke, aber ich habe mich dazu entschlossen, mich der Allee zu stellen, und das ist passiert.«
»Ja, das glaube ich Ihnen, Mr. Morgan. Es bringt mich aber nicht weiter. Verstehen Sie?«
»Klar.« Er atmete scharf, sagte aber nichts mehr.
Das wunderte mich zunächst, machte mich Sekunden später misstrauisch, sodass ich nachfragte. »Was ist mit Ihnen los?« Er gab wieder keine normale Antwort. Dafür hörte ich ein schnelles Atmen, dem ein Stöhnen folgte, das in einem leisen Schrei endete.
Ich war jetzt hellwach. »He, Mr. Morgan, was ist mit Ihnen? Warum antworten Sie nicht?«
»Ich - ich…« Mehr war nicht zu verstehen, denn die nächsten Worte gingen in einem Röcheln unter, als wäre der Anrufer attackiert worden.
Er versuchte noch, etwas zu sagen, nur gelang ihm das nicht mehr.
Das Röcheln erstickte und wurde kurz darauf von anderen Lauten abgelöst, die mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagten. Das mit anhören zu müssen war schlimm. Ich machte mir nichts vor. Diese Laute deuteten darauf hin, dass jemand starb, und das nicht auf normale Weise. Dieser Mensch wurde gequält.
Es war auch für mich eine Qual, dem zuzuhören. Einfach furchtbar und grauenhaft.
Ich hatte das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein. Plötzlich lag der Schweiß überall auf meinem Körper, und mein Atem ging heftig.
Meine Stimme hörte sich fremd an, als ich den Namen des Anrufers mehrmals rief. Ob er mich noch hörte, wusste ich nicht. Doch dann vernahm ich noch eine Reaktion.
»Die Toten, die Toten…«, hörte ich aus den unheimlich klingenden Hintergrundgeräuschen hervor. Danach klang ein Schrei auf, dann war wieder die Stimme zu hören. »Vorbei - es ist vorbei…«
Schluss, aus. Ein Knacken oder Brechen erreichte mein Ohr. Als wäre etwas zertrümmert worden, was nichts mit einem Menschen zu tun hatte.
Anschließend war es still. So unheimlich still, wie man es in einer Leichenhalle erleben kann, und ich wusste, dass dieser Frank Morgan mich niemals mehr anrufen würde.
Hilflosigkeit breitete sich in mir aus. Ich saß auf der Bettkante und stierte ins Leere. Mein Kopf war leer. Ich wusste nicht, was ich noch denken sollte. Da hatte ein Mensch mich um Hilfe angefleht, aber es war für ihn zu spät gewesen. Seine Mörder waren ihm bereits auf den Fersen gewesen.
Aber wer waren sie? Ich hatte einen Begriff gehört. Es ging um eine Allee der Toten, und ich brauchte mir nicht die Frage zu stellen, ob das stimmte oder nicht.
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