Mitternachtsmorde
konnten sie sich immer noch nicht leisten.
Seit Agent McElroy sie von Nikitas Tod unterrichtet hatte, konnte sie nur noch der kleine Jemi aufmuntern. Sie hatte das schon einmal durchgemacht und damals nur überlebt, weil sie Nikita gehabt hatten. Was sollte sie ohne ihr süßes Mädchen, ihr Wunderbaby anfangen? Wie sollte sie ohne Nikita weiterleben? Sie hatten nicht einmal ihre sterblichen Überreste bekommen. Bei einem Unfall während einer Zeitreise blieb nichts übrig, was man irgendwie bestatten konnte.
Sie wusste, dass sie nicht allein so litt. Aidan stand oft nachts auf und wanderte ziellos in der Wohnung herum, so als würde er nach seiner Tochter Ausschau halten, die nie zurückkehren würde. Fair wirkte ohne ihre ältere Schwester völlig verloren und verstört. Selbst Connor machte einen bekümmerten Eindruck. Nur Jemi merkte nichts von den Sorgen, die seine Eltern und Großeltern bedrückten, und nahm jeden Tag mit jener stürmischen Sturheit in Angriff, die er von seinem Vater geerbt hatte, denn auch Connor hatte weiß Gott keine Verschnaufpause gekannt.
Jemis selige Ahnungslosigkeit war ihr ein großer Trost, ihr Enkel war wie eine kleine, geschäftige Insel des Vergessens. Er spielte, er plapperte, er quiekte, er lachte und war ständig irgendwo, wo er nichts verloren hatte. Sobald sie auch nur eine Sekunde den Blick von ihm abwandte, stellt er etwas Neues an. Sie hütete ihn so oft wie möglich, nicht nur, um Connor und Enya etwas Luft zu verschaffen, sondern auch, weil er ihr und Aidan guttat. Jemi lenkte sie von sich und ihren Sorgen ab, rief ihnen ins Gedächtnis, dass das Leben weiterging und dass es sich genau vor ihren Augen, in Gestalt eines bezaubernden Krabbelkindes abspielte.
Die Sicherheitsglocke schlug an und signalisierte, dass jemand ins Haus gelassen werden wollte. Mit Jemi auf dem Arm ging Nicolette an die Videokonsole, die automatisch ansprang. Auf dem Bildschirm erschien ein braun uniformierter Lieferbote. Sie drückte die Sprechtaste. »Ja?«
»Nicolette und Aidan Stover?«
»Ich bin Nicolette Stover.«
»Ich habe eine Lieferung für Sie.« Er zögerte kurz. »Sie wurde zufällig auf der Baustelle drüben an der Wilshire gefunden. Sie ist – äh – sehr alt.«
»Von wem ist sie?«
»Das steht nicht darauf. Wir haben sie gescannt, um sicherzugehen, dass sie ungefährlich ist.« Er holte Luft und setzte dann erneut an: »Sie ist sehr alt.«
Weil er die entsprechende Frage zu erwarten schien, fragte Nicolette: »Wie alt ist sie denn?« Sie rechnete fest damit, dass es sich um irgendwas handelte, das sie vor mehreren Jahren bestellt und nie erhalten hatte.
»Ähm – um die zweihundert Jahre. Nachdem die Sendung frankiert ist, werden wir unserer vertraglichen Pflicht nachkommen. Ich frage mich aber doch, ob Sie mir verraten können, wie ein so altes Paket an Sie adressiert sein kann?«
»Das weiß ich auch nicht.« Seit ihnen McElroy erzählt hatte, dass Nikita gestorben war, hatte sie das Thema Zeitreisen nicht mehr losgelassen. Offenbar spielte ihnen jemand einen Streich, indem er ein Päckchen in der Zeit zurückgeschickt hatte, damit es zweihundert Jahre später wieder zugestellt werden konnte. Falls es wirklich ein Streich war, dann war es kein wirklich gemeiner Streich, da kaum jemand wusste, wie Nikita gestorben war, aber er war auch nicht besonders lustig. »Muss ich dafür unterschreiben?«
»Eine Unterschrift ist nicht erforderlich.«
Sie öffnete die altmodische Lieferklappe, er legte das Paket hinein und grüßte mit zwei Fingern in die Kamera, ehe er auf die Straße eilte und wieder seinen alltäglichen Wettlauf gegen die Zeit aufnahm, um all seine Lieferungen zuzustellen.
Ein sanftes Läuten kündigte die Ankunft des Pakets an. Immer noch Jemi im Arm haltend, der sich nach Kräften zu befreien versuchte, öffnete sie die Lieferklappe und holte das Paket heraus. Es war so schwer, dass sie es überrascht fallen ließ; der dumpfe Schlag brachte Jemi zum Lachen.
Es klang nicht so, als wäre etwas Zerbrechliches darin. »Aidan?«, rief sie. »Würdest du mir Jemi abnehmen, damit ich das Paket aufmachen kann, oder würdest du das übernehmen, und ich halte ihn?«
Aidan kam aus seinem Arbeitszimmer. Sein dichtes Haar war immer noch dunkel, und seine Augen waren von jenem warmen Braun, das er an all seine Kinder weitervererbt hatte. Nach vierzig Jahren Ehe liebten sie sich immer noch, und sie hoffte, dass ihnen mindestens noch weitere vierzig oder fünfzig
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