Mitternachtspalast
ein Stück Ziegelstein auf den Kopf gefallen, das sich vom Sims im ersten Stock gelöst hatte.«
Sheere lachte auf.
»Ich finde nicht, dass dieser unglückliche Zwischenfall ein Grund zum Lachen ist, wenn du mir die Bemerkung erlaubst«, sagte Ben unterkühlt.
»Ich glaube kein Wort von dem, was du sagst. Weder bist du die rechte Hand des Direktors, noch bist du dreiundzwanzig, noch ist der Köchin vor einem Monat ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen«, gab Sheere zurück. »Du bist ein Lügner. Seit du redest, hast du noch kein einziges wahres Wort gesagt.«
Ben wägte sorgfältig die Lage ab. Der erste Teil seiner Strategie ging wie vorherzusehen den Bach hinunter, und so gab er dem Gespräch eine vorsichtige, aber durchdachte Wendung.
»Na gut, ich gebe zu, vielleicht ist die Phantasie ein bisschen mit mir durchgegangen, aber es war nicht alles falsch, was ich gesagt habe.«
»Ach, nein?«
»Bei meinem Namen habe ich nicht gelogen. Ich heiße Ben. Und dass ich dir unsere Gastfreundschaft anbiete, stimmt auch.«
Sheere lächelte herzlich.
»Ich würde gerne annehmen, Ben, aber ich muss hier warten. Wirklich.«
Der Junge knetete seine Hände und machte ein betrübtes Gesicht.
»Also gut. Ich werde mit dir warten«, verkündete er dann feierlich. »Wenn ein Stein runterfällt, soll er auf mich fallen.«
Sheere zuckte gleichgültig mit den Achseln und nickte, dann sah sie wieder zur Tür. Eine lange Minute verging, ohne dass sich einer der beiden rührte oder den Mund aufmachte.
»Schwül heute Nacht«, bemerkte Ben irgendwann.
Sheere drehte sich um und warf ihm einen ungnädigen Blick zu.
»Willst du die ganze Nacht hier stehen bleiben?«, fragte sie.
»Schließen wir einen Pakt. Du kommst mit und trinkst ein Glas köstliche kalte Limonade mit mir und meinen Freunden, und dann lasse ich dich in Ruhe«, schlug er vor.
»Ich kann nicht, Ben. Wirklich nicht.«
»Es ist nur zwanzig Meter von hier entfernt«, setzte Ben hinzu. »Wir könnten ein Glöckchen an der Tür anbringen.«
»Ist es so wichtig für dich?«, fragte Sheere.
»Es ist meine letzte Woche hier. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, und in fünf Tagen werde ich alleine sein. Ganz allein. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal so eine Nacht mit Freunden haben werde. Du weißt nicht, wie das ist.«
Sheere sah ihn lange an.
»Doch, das weiß ich«, sagte sie schließlich. »Bring mich zu dieser Limonade.«
Nachdem Bankim nicht ohne einen gewissen Argwohn das Büro verlassen hatte, schenkte sich Carter ein Gläschen Brandy ein und bot auch seiner Besucherin eines an. Aryami lehnte ab und wartete, bis Carter in seinem Sessel Platz genommen hatte. Er saß mit dem Rücken zum Fenster, unter dem die Jungs und Mädchen ihr Fest feierten, weit weg von dem eisigen Schweigen, das in diesem Raum lag. Carter befeuchtete die Lippen mit dem Brandy und warf der alten Frau einen fragenden Blick zu. Die Zeit hatte ihren Gesichtszügen keinen Deut von ihrer Entschlossenheit genommen, und in ihren Augen war noch immer das innere Feuer jener Frau zu erkennen, die in einer Zeit, die ihm nun sehr weit weg erschien, die Ehefrau seines besten Freundes gewesen war. Die beiden sahen sich lange schweigend an.
»Ich höre«, sagte Carter schließlich.
»Vor sechzehn Jahren sah ich mich gezwungen, Ihnen das Leben eines Jungen anzuvertrauen, Mr Carter«, begann Aryami mit leiser, aber fester Stimme. »Es war eine der schwersten Entscheidungen meines Lebens, und ich merke, dass Sie in all diesen Jahren das Vertrauen, das ich in Sie setzte, nicht enttäuscht haben. In dieser Zeit wollte ich mich nicht in das Leben des Jungen einmischen, weil ich wusste, dass er nirgendwo besser aufgehoben war als hier unter Ihrem Schutz. Ich hatte nie Gelegenheit, Ihnen dafür zu danken, was sie für den Jungen getan haben.«
»Ich habe nur meine Pflicht getan«, wiegelte Carter ab. »Aber ich vermute, dass Sie nicht mitten in der Nacht hierhergekommen sind, um mit mir über dieses Thema zu sprechen.«
»Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es so ist, aber es ist nicht so«, sagte Aryami. »Ich bin gekommen, weil das Leben des Jungen in Gefahr ist.«
»Ben.«
»Das ist also der Name, den Sie ihm gegeben haben. Alles, was er weiß und ist, verdankt er Ihnen, Mr Carter«, sagte Aryami. »Aber es gibt etwas, vor dem weder Sie noch ich ihn länger beschützen können: vor der Vergangenheit.«
Die Zeiger von Thomas Carters Uhr rückten auf Mitternacht. Carter trank den
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