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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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andere Richtung als die anderen«, stellte Ian fest.
    »Michael sieht halt immer, was die anderen nicht sehen«, sagte Roshan.
    »Und was hast du in uns gesehen, was sonst niemand sieht, Michael?«, fragte Ben.
    Ben trat zu Isobel und betrachtete das Porträt. Michael hatte sie mit Wachskreide an einem Teich gemalt, in dem sich ihre Gesichter spiegelten. Am Himmel stand ein großer Vollmond, im Hintergrund ein Wald, der sich in der Ferne verlor. Ben betrachtete die verschwommenen Spiegelbilder der Gesichter im See und verglich sie mit denen der Gestalten, die am Ufer standen. Keine von ihnen hatte denselben Gesichtsausdruck wie ihr Spiegelbild. Isobels Stimme neben ihm riss ihn aus seinen Gedanken.
    »Darf ich es behalten, Michael?«, fragte sie.
    »Warum du?«, protestierte Seth.
    Ben legte eine Hand auf die Schulter des kräftigen Bengalen und warf ihm einen kurzen, eindringlichen Blick zu.
    »Lass sie«, murmelte er.
    Seth nickte, und Ben klopfte ihm liebevoll auf den Rücken, während er aus dem Augenwinkel beobachtete, wie eine ältere, elegant gekleidete Dame in Begleitung eines Mädchens, das etwa in seinem Alter und dem seiner Freunde sein mochte, vom Eingangstor über den Hof auf das Hauptgebäude zuging.
    »Ist was?«, fragte Ian neben ihm leise.
    Ben schüttelte langsam den Kopf.
    »Wir bekommen Besuch«, sagte er, ohne die Augen von der Frau und dem Mädchen abzuwenden. »Oder so etwas Ähnliches.«
     
    Als Bankim an seine Tür klopfte, hatte Thomas Carter die Frau und ihre Begleiterin bereits durch das Fenster gesehen, von dem aus er das Fest im Hof beobachtete. Er knipste die Schreibtischlampe an und rief seinen Mitarbeiter herein.
    Bankim war ein junger Mann mit ausgeprägt bengalischen Gesichtszügen und lebhaften, stechenden Augen. In St. Patrick’s aufgewachsen, war er als Lehrer für Physik und Mathematik in das Waisenhaus zurückgekehrt, nachdem er einige Jahre an verschiedenen Schulen in der Provinz gearbeitet hatte. Der glückliche Ausgang von Bankims Geschichte war eine der Ausnahmen, mit denen Carter Jahr für Jahr seine Moral hochhielt. Zu sehen, wie er als Erwachsener anderen Jugendlichen etwas beibrachte, die in denselben Klassenräumen die Schulbank drückten wie er vor Jahren, war die beste Entschädigung für seine Arbeit, die er sich vorstellen konnte.
    »Tut mir leid, dass ich Sie störe, Thomas«, sagte Bankim, »Aber unten ist eine Dame, die behauptet, sie müsse Sie dringend sprechen. Ich habe ihr gesagt, dass Sie nicht da sind und dass wir heute ein Fest feiern, aber sie wollte mir gar nicht zuhören und hat energisch darauf bestanden, um es mal so zu nennen.«
    Carter sah den Lehrer erstaunt an und blickte auf die Uhr.
    »Es ist fast Mitternacht«, sagte er. »Wer ist die Frau?«
    Bankim zuckte mit den Schultern.
    »Ich weiß nicht, wer sie ist, aber ich weiß, dass sie nicht gehen wird, bis Sie sie empfangen.«
    »Hat sie nicht gesagt, was sie will?«
    »Sie sagte nur, ich solle Ihnen das hier geben«, antwortete Bankim und reichte Carter ein schmales, glänzendes Kettchen. »Sie hat behauptet, dass Sie wüssten, was das ist.«
    Carter nahm das Kettchen und betrachtete es im Schein der Schreibtischlampe. Daran hing ein kreisförmiges Medaillon, das einen goldenen Mond darstellte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis das Bild Erinnerungen in ihm wachrief. Carter schloss die Augen und spürte, wie er langsam einen Kloß im Hals bekam und sein Magen sich verkrampfte. Er besaß ein ganz ähnliches Medaillon. Es lag in einem Kästchen, das er in der verschlossenen Vitrine seines Büros aufbewahrte. Ein Medaillon, das er vor sechzehn Jahren zuletzt gesehen hatte.
    »Ist etwas?«, fragte Bankim, sichtlich besorgt über den Wandel, der mit Carter vorging.
    Der Direktor des Waisenhauses lächelte schwach und schüttelte den Kopf, dann ließ er das Kettchen in die Hemdtasche gleiten.
    »Nein, nein«, sagte er knapp. »Sie soll raufkommen. Ich werde sie empfangen.«
    Bankim sah ihn verwundert an, und für einen Augenblick glaubte Carter, sein ehemaliger Schüler werde die Frage stellen, die er nicht hören wollte. Schließlich nickte Bankim, verließ das Büro und zog leise die Tür hinter sich zu. Zwei Minuten später betrat Aryami Bosé Thomas Carters Allerheiligstes und schob den Schleier zurück, der ihr Gesicht bedeckte.
     
    Ben sah zu dem Mädchen herüber, das geduldig vor dem Haupteingang von St. Patrick’s wartete. Bankim war inzwischen wieder aufgetaucht, und nachdem er der alten

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