Mitternachtspalast
Dame bedeutet hatte, ihm zu folgen, hatte diese dem Mädchen mit unmissverständlichen Gesten klargemacht, dass es wie eine steinerne Statue vor der Tür auf sie warten solle. Offensichtlich war die alte Frau gekommen, um Carter zu sprechen, und angesichts der Tatsache, dass der Direktor des Waisenhauses nicht eben ein Frauenheld war, konnte man davon ausgehen, dass mitternächtliche Besuche geheimnisvoller Schönheiten unter die Rubrik »unvorhergesehen« fielen. Ben grinste und konzentrierte sich dann wieder auf das Mädchen. Es war groß und schlank und trug ein schlichtes, aber dennoch außergewöhnliches Kleid, das aussah, als habe es jemand nach seinem ganz eigenen, unverwechselbaren Geschmack genäht. Ganz offensichtlich war es nicht auf einem Basar der
Schwarzen Stadt
gekauft. Das Gesicht des Mädchens war von dort, wo er stand, nicht klar zu erkennen, aber es wirkte fein ziseliert, und ihre Haut leuchtete blass.
»Was ist denn?«, flüsterte Ian ihm ins Ohr.
Ben deutete kaum merklich mit dem Kopf zu dem Mädchen herüber.
»Es ist gleich Mitternacht«, setzte Ian hinzu. »In ein paar Minuten treffen wir uns im Palast. Es ist unsere letzte Versammlung, denk daran.«
Ben nickte abwesend.
»Eine Sekunde noch«, sagte er und ging mit entschlossenen Schritten auf das Mädchen zu.
»Ben!«, rief Ian ihm hinterher. »Nicht jetzt, Ben …«
Ben ignorierte die Rufe seines Freundes. Die Neugierde, hinter dieses Geheimnis zu kommen, war stärker als die protokollarischen Feinheiten der Chowbar Society. Er setzte ein lammfrommes Musterschülerlächeln auf und ging geradewegs auf das Mädchen zu, das die Augen niederschlug, als es ihn kommen sah.
»Hallo. Ich bin die rechte Hand von Mr Carter, dem Direktor von St. Patrick’s«, sagte Ben aufgeräumt. »Kann ich etwas für dich tun?«
»Eigentlich nicht. Dein … dein Kollege hat meine Großmutter zum Direktor gebracht«, sagte das Mädchen.
»Deine Großmutter?«, fragte Ben. »Verstehe. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes. Ich meine, es geht auf Mitternacht zu, und ich habe mich gefragt, ob etwas passiert ist.«
Das Mädchen lächelte scheu und schüttelte den Kopf. Ben lächelte zurück. Sie war keine leichte Beute.
»Ich heiße Ben«, stellte er sich höflich vor.
»Sheere«, antwortete das Mädchen und sah zur Tür, als hoffte es, dass die Großmutter jeden Moment auftauchte.
Ben rieb sich verlegen die Hände.
»Gut. Sheere«, sagte er. »Während mein Kollege Bankim deine Großmutter zu Mr Carters Büro führt, kann ich dir vielleicht unsere Gastfreundschaft anbieten. Der Chef legt großen Wert darauf, dass wir zuvorkommend zu Besuchern sind.«
»Bist du nicht ein bisschen zu jung, um die rechte Hand des Rektors zu sein?«, erkundigte sich Sheere und wich dem Blick des Jungen aus.
»Zu jung?«, fragte er. »Ich fühle mich geschmeichelt, aber leider muss ich dir sagen, dass ich bald dreiundzwanzig werde.«
»Das hätte ich nie gedacht«, erwiderte Sheere.
»Liegt in der Familie«, erklärte Ben. »Wir haben alle gute Haut, der man das Alter nicht so schnell ansieht. Meine Mutter zum Beispiel wird immer für meine Schwester gehalten, wenn sie mit mir auf die Straße geht.«
»Ach, wirklich?«, fragte Sheere und unterdrückte ein Grinsen. Sie glaubte kein Wort von seiner Geschichte.
»Was hältst du davon, die Gastfreundschaft von St. Patrick’s anzunehmen?« Ben ließ nicht locker. »Wir feiern heute ein Abschiedsfest für ein paar Schüler, die uns bald verlassen werden. Es ist zwar traurig, aber andererseits liegt das ganze Leben vor ihnen. Das ist auch ziemlich aufregend.«
Sheere heftete ihre perlschwarzen Augen auf Ben, und auf ihren Lippen erschien langsam ein ungläubiges Lächeln.
»Meine Großmutter hat gesagt, ich soll hier auf sie warten.«
Ben deutete auf die Tür.
»Hier?«, fragte er besorgt. »Genau hier?«
Sheere nickte verständnislos.
»Weißt du«, begann Ben und gestikulierte wie wild, »es tut mir leid, aber na ja, ich dachte, ich bräuchte es nicht zu erwähnen. So was ist nicht gut für den Ruf der Einrichtung, aber du lässt mir keine andere Wahl. Es gibt ein Korrosionsproblem. An der Fassade.«
Das Mädchen sah ihn fassungslos an.
»Ein Korrosionsproblem?«
Ben nickte ernst.
»So ist es«, beteuerte er mit betrübter Miene. »Ein wirklich bedauernswerter Vorfall. Genau hier, wo du jetzt stehst, ist vor nicht mal einem Monat unserer alten Köchin Mrs Potts – Gott möge ihr noch viele Jahre schenken! –
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