Mitternachtspalast
Brandy aus, den er sich eingeschenkt hatte, und warf einen Blick vom Fenster in den Hof. Ben unterhielt sich mit einem Mädchen, das er nicht kannte.
»Wie gesagt, ich höre«, wiederholte Carter noch einmal.
Aryami richtete sich auf, legte die Hände übereinander und begann zu erzählen …
»Sechzehn Jahre bin ich auf der Suche nach immer neuen Zufluchtsorten und Verstecken durch dieses Land geirrt. Ich war für einen Monat vorläufig bei Verwandten in Delhi untergekommen, um mich von einer Krankheit zu erholen, als ich vor zwei Wochen einen Brief erhielt. Niemand konnte wissen, dass meine Enkelin und ich dort waren. Als ich den Brief öffnete, stellte ich fest, dass er ein weißes, völlig unbeschriebenes Blatt Papier enthielt. Ich dachte, es handele sich um einen Irrtum oder womöglich einen Scherz, bis ich den Umschlag genauer untersuchte. Er trug den Poststempel von Kalkutta. Die Farbe des Stempels war verschwommen, und es war schwer, etwas darauf zu erkennen, aber ich konnte das Datum entziffern. Es war der 25 . Mai 1916 .
Ich legte den Brief zur Seite, der offenbar sechzehn Jahre gebraucht hatte, um einmal quer durch Indien in dieses Hauses zu gelangen, an einen Ort, zu dem nur ich Zutritt hatte. Erst heute Abend nahm ich ihn wieder zur Hand. Meine alten Augen hatten mir keinen Streich gespielt: Das Datum war immer noch dasselbe, das ich auf dem verschwommenen Stempel zu erkennen geglaubt hatte, doch etwas war anders. Auf dem Blatt, das Tage zuvor noch weiß gewesen war, standen nun drei Sätze, geschrieben mit frischer, roter Tinte, so frisch, dass die Schrift auf dem brüchigen Papier verschmierte, als ich sie berührte. ›Sie sind keine Kinder mehr. Ich bin gekommen, um mir zu holen, was mir zusteht. Stell dich mir nicht in den Weg.‹ Das waren die Worte, die ich las, bevor ich den Brief ins Feuer warf.
Da wusste ich, wer den Brief geschickt hatte, und mir war klar, dass der Moment gekommen war, alte Erinnerungen wieder hochzuholen, die ich in den letzten Jahren zu verdrängen gelernt hatte. Ich weiß nicht, ob ich schon einmal von meiner Tochter Kylian erzählt habe, Mr Carter. Heute bin ich eine alte Frau, die auf das Ende ihrer Tage wartet, aber es gab eine Zeit, in der auch ich eine Mutter war, die Mutter des wunderbarsten Wesens, das je den Boden dieser Stadt betreten hat.
Ich erinnere mich an diese Tage als die schönsten meines Lebens. Kylian hatte einen der brillantesten Männer geheiratet, die dieses Land hervorgebracht hat, und lebte mit ihm in einem Haus, das er im Norden der Stadt gebaut hatte, ein Haus, wie man es noch nie zuvor sah. Der Mann meiner Tochter, Lahawaj Chandra Chatterghee, war Ingenieur und Schriftsteller. Er war einer der Ersten, die das Telegraphennetz in diesem Land planten, einer der Ersten, die das Stromnetz planten, das die Zukunft unserer Städte bestimmen wird, einer der Ersten, die ein Eisenbahnnetz in Kalkutta bauten … Einer der Ersten bei allem, was er sich vornahm.
Aber das Glück der beiden währte nicht lange. Chandra Chatterghee verlor sein Leben bei dem furchtbaren Brand, der den alten Bahnhof Jheeter’s Gate auf der anderen Seite des Hooghly River zerstörte. Sie werden das Gebäude schon einmal gesehen haben. Heute steht es leer, aber seinerzeit war es einer der prächtigsten Bauten in Kalkutta. Eine revolutionäre Eisenkonstruktion, durchzogen von Tunnels, zahlreichen Ebenen, Belüftungsschächten und hydraulischen Schienenverbindungen, die Ingenieure aus aller Welt besichtigen und bestaunen kamen. Das alles war das Werk des Ingenieurs Chandra Chatterghee.
Am Abend der offiziellen Einweihung brach in Jheeter’s Gate aus unerklärlichen Gründen ein Feuer aus, und ein Zug, der über dreihundert Waisenkinder nach Bombay bringen sollte, ging in Flammen auf und verschwand in den dunklen Tunnels, die sich in den Untergrund gruben. Keiner in diesem Zug, der immer noch irgendwo in der Dunkelheit dieses unterirdischen Labyrinths am Westufer Kalkuttas gestrandet ist, kam mit dem Leben davon.
Die Menschen dieser Stadt haben die Nacht, als der Ingenieur in jenem Zug starb, als eine der größten Tragödien in Erinnerung, die Kalkutta je erlebte. Viele betrachteten es als ein Zeichen, dass sich für immer ein Schatten über die Stadt legen würde. Es gab Gerüchte, das Feuer sei von einer Gruppe britischer Financiers gelegt worden, denen die neue Eisenbahnlinie ein Dorn im Auge war, weil sie zeigte, dass die Ära des Seehandels, einer der
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