Mitternachtspalast

wichtigsten Wirtschaftszweige Kalkuttas seit den Zeiten Lord Clives und der East India Company, unweigerlich vorbei war. Die Eisenbahn war die Zukunft. Die Schienen waren der Weg, auf dem dieses Land und diese Stadt einer Zukunft ohne britische Eroberer entgegensahen. In der Nacht, als Jheeter’s Gate brannte, wurden diese Träume zu einem Albtraum.
    Einige Tage nach dem Verlust von Ingenieur Chandra Chatterghee wurde meine Tochter Kylian, die kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes stand, von einer unheimlichen Person bedroht, die aus der Dunkelheit Kalkuttas kam, ein Mörder, der sich geschworen hatte, die Frau und die Nachkommen des Mannes zu töten, dem er die Schuld an all seinem Unglück gab. Dieser Mann, dieser Verbrecher hatte den Brand gelegt, bei dem Chandra ums Leben kam. Ein junger Offizier der britischen Armee, ein früherer Verehrer meiner Tochter, Leutnant Michael Peake, nahm sich vor, diesen Wahnsinnigen zu schnappen, doch das stellte sich als wesentlich komplizierter heraus, als er geglaubt hatte.
    In der Nacht, als meine Tochter ihr Kind bekommen sollte, drangen mehrere Männer in ihr Haus ein und entführten sie. Gedungene Mörder. Leute ohne Namen und ohne Gewissen, die für ein paar Münzen leicht in den Straßen dieser Stadt zu finden sind. Eine Woche lang durchkämmte der Leutnant, der Verzweiflung nahe, auf der Suche nach meiner Tochter jeden Winkel der Stadt. Nach dieser dramatischen Woche hatte Peake eine schreckliche Ahnung, die sich dann bewahrheitete. Der Mörder hatte meine Tochter tief in die Ruinen von Jheeter’s Gate verschleppt. Dort hatte meine Tochter inmitten von Schutt und den Überresten der Tragödie den Jungen geboren, der in Ihrer Obhut zu einem jungen Mann heranwuchs, Mr Carter.
    Ihn, Ben, und seine Zwillingsschwester, die in meiner Obhut zu einer jungen Frau heranwuchs und der ich, genau wie Sie, einen Namen gab, den Namen, den ihre Mutter immer für sie haben wollte: Sheere.
    Leutnant Peake gelang es unter Einsatz seines Lebens, dem Mörder die beiden Kinder zu entreißen. Rasend vor Wut, schwor sich dieser Verbrecher, ihre Spur zu verfolgen und sie zu töten, sobald sie das Erwachsenenalter erreichten, um sich an ihrem toten Vater, dem Ingenieur Chandra Chatterghee, zu rächen. Das war sein einziges Ziel: jeden Hinweis auf das Leben und Wirken seines Feindes zu vernichten, um jeden Preis.
    Kylian starb mit dem Versprechen auf den Lippen, dass ihre Seele keine Ruhe finden werde, bis sie wisse, dass ihre Kinder in Sicherheit seien. Leutnant Peake, der Mann, der sie insgeheim genauso geliebt hatte wie ihr eigener Ehemann, gab sein Leben, damit das Versprechen, mit dem sie ihren letzten Atemzug tat, wahr werden konnte. Am 25 . Mai 1916 gelang es Leutnant Peake, den Hooghly River zu überqueren und mir die Kinder zu übergeben. Sein weiteres Schicksal ist mir bis heute unbekannt.
    Ich kam zu dem Schluss, dass ich das Leben der Kinder nur retten konnte, wenn ich sie trennte und ihre Identität und ihren Aufenthaltsort verschleierte. Bens weitere Geschichte kennen Sie besser als ich. Ich nahm Sheere in meine Obhut und begab mich auf eine lange Reise durch das ganze Land. Ich erzog das Mädchen im Gedenken an den großartigen Mann, der ihr Vater gewesen war, und an die wunderbare Frau, die ihr das Leben schenkte, meine Tochter. Ich erzählte ihr nie mehr, als ich für notwendig hielt. In meiner Einfalt glaubte ich, der zeitliche und räumliche Abstand werde die Spuren der Vergangenheit auslöschen, doch nichts kann unsere Schritte rückgängig machen. Als der Brief eintraf, wusste ich, dass meine Flucht zu Ende war und der Moment gekommen, nach Kalkutta zurückzukehren, um Sie darüber in Kenntnis zu setzen, was hier vor sich geht. Ich habe Ihnen damals in meinem Brief nicht die ganze Wahrheit gesagt, Mr Carter, aber ich habe aus tiefster Überzeugung gehandelt und wirklich geglaubt, das Richtige zu tun.
    Ich nahm meine Enkelin, denn ich konnte sie jetzt, da der Mörder unseren Aufenthaltsort kannte, nicht alleinlassen, und wir fuhren zurück nach Kalkutta. Während der ganzen Fahrt ging mir ein Gedanke nicht aus dem Kopf, der zu beklemmender Gewissheit wurde, je näher wir unserem Bestimmungsort kamen. Ich war mir sicher, dass dieser Mörder nun, da Ben und Sheere die Kindheit hinter sich ließen und zu Erwachsenen wurden, wieder aus der Dunkelheit zurückgekehrt war, um sein altes Versprechen einzulösen, und mit einer Klarheit, wie wir sie nur im Angesicht der