Mitternachtspalast
Band mit goldgeprägter Schrift auf dem Buchrücken:
Shivas Tränen
von L. Chandra Chatterghee.
Das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste handelt von seinen Plänen für eine neue Nation, erbaut auf Fortschritt und Technologie, Eisenbahn und Elektrizität. Er nannte ihn
Mein Land
. Im zweiten Teil beschreibt er ein Haus, einen wundersamen Ort, den er später einmal für sich und seine Familie bauen wollte, wenn er das Vermögen beisammen hatte, das er sich erwerben wollte. Er beschreibt jeden Winkel dieses Hauses, jeden Raum, jede Farbe und jeden Gegenstand, und zwar mit einer Genauigkeit, mit der die Pläne eines Architekten nicht mithalten könnten. Diesen Teil nannte er
Mein Haus
. Der dritte Teil,
Meine Gedankenwelt
, ist eine Sammlung von kleinen Erzählungen und Fabeln, die mein Vater seit Jugendtagen geschrieben hatte. Meine Lieblingsgeschichte ist die, die dem Buch den Titel gab. Sie ist ganz kurz. Ich werde sie euch erzählen …
Vor langer, langer Zeit wurden die Menschen in Kalkutta von einer furchtbaren Seuche heimgesucht. Sie raffte die Kinder dahin, so dass die Einwohner zunehmend älter wurden und die Hoffnungen in die Zukunft schwanden. Zu ihrer Rettung begab sich Shiva auf eine weite Reise, um nach einem Heilmittel gegen die Krankheit zu suchen. Während seiner Odyssee musste er zahlreiche Gefahren überstehen. So viele Hindernisse stellten sich ihm in den Weg, dass ihn die Reise viele Jahre von Kalkutta fernhielt, und als er schließlich zurückkehrte, stellte er fest, dass sich alles verändert hatte. Während seiner Abwesenheit war ein Zauberer vom anderen Ende der Welt aufgetaucht. Er hatte ein sonderbares Heilmittel dabei und verkaufte es den Bewohnern Kalkuttas gegen einen sehr hohen Preis: die Seelen aller gesunden Kinder, die von diesem Tag an geboren würden.
Das war es, was seine Augen erblickten. Wo vorher Dschungel und Lehmhütten gewesen waren, befand sich nun eine große Stadt, so groß, dass man sie nicht mit einem Blick erfassen konnte und sie sich am weiten Horizont verlor. Fasziniert von dem Anblick, beschloss Shiva, Mensch zu werden und als Bettler verkleidet durch die Straßen zu streifen, um die neuen Bewohner dieses Ortes kennenzulernen, jene Kinder, die dank des Zaubermittels geboren worden waren und deren Seelen nun dem Zauberer gehörten. Doch ihn erwartete eine große Enttäuschung.
Sieben Tage und sieben Nächte zog der Bettler durch die Straßen Kalkuttas und klopfte an die Türen der Paläste, doch nirgends wurde ihm aufgetan. Niemand wollte ihn anhören, und er wurde zum Ziel von Spott und Verachtung. Verzweifelt wanderte er durch die Straßen der gewaltigen Stadt und entdeckte die Armut, das Elend und die Dunkelheit, die sich tief in den Herzen der Menschen verbargen. So groß war seine Trauer, dass er in der letzten Nacht beschloss, Kalkutta für immer zu verlassen.
Weinend ging er davon und ließ unbemerkt eine Spur aus Tränen zurück, die sich im Dschungel verlor. Bei Tagesanbruch waren Shivas Tränen zu Eis geworden. Als die Menschen erkannten, was sie getan hatten, wollten sie ihren Fehler wiedergutmachen und brachten die zu Eis gewordenen Tränen zu einem Tempel. Doch die Tränen zerrannen eine nach der anderen in ihren Händen, und Kalkutta lernte nie wieder Eis und Schnee kennen.
Von jenem Tag an lastete der Fluch schrecklicher Hitze auf der Stadt, und die Götter wandten sich für immer von ihr ab, um sie den Geistern der Finsternis zu überlassen. Die wenigen Weisen und Gerechten, die der Stadt geblieben waren, beteten, dass eines Tages erneut Shivas eisige Tränen vom Himmel fallen und den Bann brechen mochten, der aus Kalkutta eine verfluchte Stadt gemacht hatte …
Das war immer meine Lieblingsgeschichte. Es ist vielleicht die einfachste, aber keine bringt stärker zum Ausdruck, was mein Vater mir bedeutet hat und ein Leben lang bedeuten wird. Wie die Menschen der verfluchten Stadt, die den Preis für die Vergangenheit bezahlen müssen, warte auch ich auf den Tag, an dem Shivas Tränen auf mein Leben fallen und mich für immer aus meiner Einsamkeit befreien. Bis dahin träume ich von diesem Haus, das mein Vater zuerst in Gedanken und Jahre später irgendwo im Norden dieser Stadt errichtete. Ich weiß, dass es existiert, auch wenn meine Großmutter das immer bestritten hat. Ich glaube, dass mein Vater in dem Buch den Ort beschrieben hat, wo er es irgendwann bauen wollte: Hier, in der
Schwarzen Stadt
. All die Jahre habe ich mir
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