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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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vorgestellt, wie es wohl wäre, hindurchzulaufen und alles wiederzuerkennen, was ich schon in- und auswendig kenne: die Bibliothek, die Zimmer, seinen Arbeitssessel …
    Das ist meine Geschichte. Ich habe sie nie erzählt, weil ich keinen hatte, dem ich sie erzählen konnte. Bis heute.«
     
    Als Sheere mit ihrer Erzählung fertig war, hatte das eine oder andere Mitglied der Chowbar Society Tränen in den Augen, die das schummrige Licht, das in dem Palast herrschte, zu verbergen half. Keiner schien das Schweigen brechen zu wollen, das seit dem Ende der Geschichte in der Luft lag. Sheere lachte unsicher und sah Ben an.
    »Bin ich der Chowbar Society würdig?«, fragte sie schüchtern.
    »Was mich betrifft«, antwortete er, »hast du eine Ehrenmitgliedschaft verdient.«
    »Gibt es dieses Haus wirklich?«, fragte Siraj fasziniert.
    »Ich bin mir sicher«, antwortete das Mädchen. »Und ich gedenke, es zu finden. Der Schlüssel ist irgendwo in dem Buch meines Vaters zu finden.«
    »Wann fangen wir mit der Suche an?«, fragte Seth.
    »Gleich morgen«, schlug Sheere vor. »Mit eurer Hilfe, wenn ihr wollt …«
    »Du wirst jemanden mit scharfem Verstand brauchen«, erklärte Isobel. »Du kannst auf mich zählen.«
    »Ich bin ein Experte für Schlösser«, sagte Roshan.
    »Ich kann Karten im Stadtarchiv suchen«, ergänzte Seth.
    »Ich kann nachforschen, ob ein Geheimnis darauf lastet«, sagte Siraj. »Vielleicht ist es verhext.«
    »Ich könnte Zeichnungen davon machen«, sagte Michael. »Pläne. Auf der Grundlage des Buches, meine ich.«
    Sheere lachte, dann sah sie Ben und Ian an.
    »Na ja«, sagte Ben. »Irgendeiner muss das Ganze ja leiten. Ich nehme die Herausforderung an. Ian kann Jod auftragen, wenn sich einer einen Splitter in den Finger zieht.«
    »Ein Nein werdet ihr vermutlich nicht akzeptieren«, sagte Sheere.
    »Wir haben das Wort ›Nein‹ vor sechs Monaten aus dem Wörterbuch in der Bibliothek von St. Patrick’s gestrichen«, erklärte Ben. »Du bist jetzt ein Mitglied der Chowbar Society. Deine Probleme sind unsere Probleme. Mitgehangen, mitgefangen.«
    »Ich dachte, wir hätten uns aufgelöst«, rief Siraj in Erinnerung.
    »Ich ordne eine Vertagung wegen schwerwiegender Umstände an«, antwortete Ben und warf seinem Kumpel einen scharfen Blick zu.
    Siraj gab sich geschlagen.
    »Einverstanden«, willigte Sheere ein. »Aber jetzt müssen wir zurückgehen.«
     
    Der Blick, mit dem Aryami Sheere und die versammelte Chowbar Society empfing, hätte am helllichten Tag den Hooghly River gefrieren lassen können. Die alte Dame wartete zusammen mit Bankim vor dem Haupteingang. Beim Anblick ihrer Miene wusste Ben, dass er sich besser langsam eine Entschuldigung ausdachte, um die Standpauke ein wenig abzumildern, die ihre neue Freundin mit Sicherheit erwartete. Ben trat vor die anderen und setzte sein strahlendstes Lächeln auf.
    »Es war meine Schuld, Madam. Wir wollten Ihrer Enkelin nur den Hof hinter dem Gebäude zeigen«, sagte er.
    Aryami würdigte ihn keines Blickes und wandte sich direkt an Sheere.
    »Ich habe dir gesagt, du sollst hier warten und dich nicht von der Stelle rühren«, sagte die alte Frau mit zornrotem Gesicht.
    »Wir waren nur zwanzig Meter entfernt, Madam«, wandte Ian ein.
    Aryami warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
    »Dich habe ich nicht gefragt, Junge«, fuhr sie ihm über den Mund.
    »Es tut uns leid, wenn wir Ihnen Ärger bereitet haben, Madam. Es war nicht unsere Absicht …«, fing Ben erneut an.
    »Lass es gut sein, Ben«, unterbrach ihn Sheere. »Ich kann für mich selbst sprechen.«
    Die abweisende Miene der alten Frau veränderte sich, was den Jugendlichen nicht entging. Aryami deutete auf Ben, und ihr Gesicht im schwachen Schein der Gartenlaternen erblasste.
    »Du bist Ben?«, fragte sie leise.
    Der Junge nickte. Er ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken und hielt dem unergründlichen Blick der alten Frau stand. Ihre Augen sahen nicht mehr wütend aus, nur traurig und besorgt. Aryami hakte ihre Enkelin unter und blickte zu Boden.
    »Wir müssen gehen«, sagte sie. »Verabschiede dich von deinen Freunden.«
    Die Mitglieder der Chowbar Society nickten zum Abschied, und Sheere lächelte schüchtern, bevor sie mit Aryami Bosé davonging und in den dunklen Straßen der Stadt verschwand. Ian trat zu Ben und musterte seinen Freund, der Sheere und Aryami hinterhersah, die in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen waren.
    »Für einen Moment kam es mir vor, als hätte die Frau

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