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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Siraj hinzu.
    »Und was ist der Preis?«
    »Eine Geschichte«, sagte Ben. »Eine persönliche Geschichte, die du noch keinem erzählt hast. Du teilst sie mit uns, und dein Geheimnis wird die Chowbar Society niemals verlassen.«
    »Hast du so eine Geschichte?«, fragte Isobel herausfordernd, während sie auf ihrer Unterlippe kaute.
    Sheere musterte noch einmal die sechs Jungen und das Mädchen, die sie gespannt ansahen, und nickte.
    »Ich kenne eine Geschichte, wie ihr sie noch nie gehört habt«, sagte sie schließlich.
    »Dann nur zu«, sagte Ben und klatschte in die Hände. »Auf geht’s.«
     
    Während Aryami Bosé erzählte, was sie und ihre Enkelin nach langen Jahren im Exil wieder nach Kalkutta geführt hatte, lotsten die sieben Mitglieder der Chowbar Society Sheere durch die Büsche, die rings um den Mitternachtspalast wucherten. In den Augen von Sheere war der Palast nichts weiter als ein alter, leerstehender Kasten, durch dessen kaputtes Dach man den mit Sternen übersäten Himmel sehen konnte. Aus den unheimlichen Schatten traten die Überreste von Wasserspeiern, Säulen und Stuckreliefs hervor, die Zeugnis von dem hochherrschaftlichen, wie aus einem Märchen entsprungenen Herrenhaus ablegten, dass dieses Gebäude einmal gewesen sein musste.
    Sie durchquerten den verwilderten Garten auf einem schmalen Trampelpfad durchs Gebüsch, der direkt zum Hauptportal des Hauses führte. Ein leiser Wind strich durch die Blätter und die steinernen Säulengänge des Palasts. Ben drehte sich um und sah das Mädchen an. Er strahlte übers ganze Gesicht.
    »Na, wie findest du’s?«, fragte er sichtlich stolz.
    »Besonders«, schlug Sheere vor, aus Angst, die Begeisterung des Jungen abzukühlen.
    »Wundervoll«, korrigierte Ben und ging weiter, ohne noch ein Wort über den Zauber des Hauptquartiers der Chowbar Society zu verlieren.
    Sheere lächelte still in sich hinein und folgte ihm. Wie gerne hätte sie diesen Ort und diese Jungs schon früher kennengelernt, in einer Nacht wie dieser, als das Haus noch ihr Zufluchtsort und ihr Allerheiligstes gewesen war. Zwischen Ruinen und Erinnerungen ging von diesem Ort jene Aura von Magie und Illusion aus, die sonst nur dem undeutlichen Bild der ersten Lebensjahre innewohnt. Es tat nichts zur Sache, dass es nur für eine Nacht sein würde; sie brannte darauf, den Preis für die Aufnahme in die fast schon aufgelöste Chowbar Society zu bezahlen.
    »Meine geheime Geschichte ist eigentlich die Geschichte meines Vaters. Die eine ist untrennbar mit der anderen verbunden. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, und meine Erinnerungen an ihn beschränken sich auf das, was ich von meiner Großmutter und aus seinen Büchern und Schriften erfuhr, aber so seltsam es euch auch erscheinen mag, ich fühle mich ihm näher als jedem anderen. Er ist noch vor meiner Geburt gestorben, aber ich weiß genau, dass er auf mich wartet, bis wir uns eines Tages wiedersehen, und dann werde ich feststellen, dass er genauso ist, wie ich ihn mir immer vorgestellt habe: der beste Mensch auf der Welt.
    Ich bin gar nicht so anders als ihr. Zwar bin ich nicht in einem Waisenhaus aufgewachsen, aber ich habe nie erfahren, wie es ist, länger als einen Monat irgendwo zu bleiben oder jemanden zum Reden zu haben – von meiner Großmutter einmal abgesehen. Wir lebten im Zug, bei Unbekannten, auf der Straße, rastlos, ohne einen Platz, den wir unser Zuhause nennen und an den wir zurückkehren konnten. In all diesen Jahren war mein Vater der einzige Freund, den ich hatte. Er war nie da, aber ich wusste alles aus seinen Büchern und den Erzählungen meiner Großmutter.
    Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, und ich habe gelernt, damit zu leben, dass ich auch an sie keine Erinnerungen habe und nur das Bild von ihr kenne, das mein Vater in seinen Büchern von ihr zeichnet. Von all diesen Büchern, den Abhandlungen über das Ingenieurwesen und ähnlichen dicken Schinken, die ich nie richtig verstand, war mein Lieblingsbuch immer ein schmales Bändchen mit dem Titel
Shivas Tränen
. Als mein Vater es schrieb, war er noch keine fünfunddreißig Jahre alt und gerade mit dem Bau der ersten Eisenbahnlinie von Kalkutta und den Entwürfen für einen aufsehenerregenden Bahnhof aus Stahl beschäftigt, den die Stadt errichten wollte. Ein kleiner Verleger aus Bombay druckte knapp sechshundert Exemplare des Buches, das meinem Vater nie auch nur eine einzige Rupie einbrachte. Ich besitze eines davon. Es ist ein schmaler

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