Mitternachtspalast
Angst«, sagte er.
Ben nickte.
»Wer hat in einer solchen Nacht keine Angst?«, fragte er.
»Ich denke, für heute gehen wir am besten alle schlafen«, sagte Bankim von der Tür her.
»Ist das ein Vorschlag oder ein Befehl?«, fragte Isobel.
»Ihr wisst doch, dass meine Vorschläge für euch Befehle sind«, sagte Bankim und deutete ins Haus. »Rein mit euch.«
»Tyrann«, murmelte Siraj vor sich hin. »Genieß die Tage, die dir noch bleiben.«
»Die reuigen Rückkehrer sind die Schlimmsten«, setzte Roshan hinzu.
Bankim sah lächelnd zu, wie die sieben Jugendlichen ins Haus trotteten, ohne weiter auf ihr Protestgemurmel zu achten. Ben war der Letzte, der durch die Tür trat. Er warf Bankim einen verschwörerischen Blick zu.
»So sehr sie auch meckern«, sagte er, »in fünf Tagen werden sie deinen Polizeidienst vermissen.«
»Du wirst ihn auch vermissen, Ben«, sagte Bankim lachend.
»Ich vermisse ihn jetzt schon«, murmelte Ben vor sich hin, als er die Treppe zu den Schlafräumen im ersten Stock hinaufging. Er wusste, dass er in einer Woche nicht mehr diese vierundzwanzig Stufen zählen würde, die er so gut kannte.
Irgendwann in der Nacht erwachte Ben in dem schwachen bläulichen Dämmerlicht, das über dem Schlafsaal lag, und glaubte einen kalten Lufthauch auf seinem Gesicht zu spüren, wie der geheimnisvolle Atem von jemandem, der sich in der Dunkelheit verbarg. Ein flüchtiger Lichtstrahl zuckte langsam durch das schmale, rechteckige Fenster und warf tausend tanzende Schatten auf die Wände und die Decke des Saals. Ben tastete nach dem schlichten Tischchen, das neben seinem Bett stand, und hielt das Zifferblatt seiner Uhr ins Mondlicht. Die Zeiger wanderten über den Äquator der Nacht: drei Uhr.
Er seufzte, als er merkte, wie sich die letzten Reste von Müdigkeit verflüchtigten wie Tautropfen in der Morgensonne, und vermutete, dass Ian ihm für eine Nacht das Gespenst seiner Schlaflosigkeit geliehen hatte. Er schloss die Augen wieder und ließ die Bilder der abendlichen Feier Revue passieren, weil er auf ihre einlullende, einschläfernde Wirkung vertraute. Exakt in diesem Moment hörte er zum ersten Mal das Geräusch. Er setzte sich auf, um dem seltsamen Wispern zu lauschen, das von den Blättern der Bäume unten im Hof zu kommen schien.
Er schlug die Decke zurück und trat langsam ans Fenster. Er konnte das leise Rascheln der erloschenen Papierlaternen in den Bäumen hören und das ferne Echo von etwas, das ihm vorkam wie Kinderstimmen, die lachten und durcheinanderplapperten, Hunderte von ihnen. Er lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe und bemerkte hinter dem Dunsthauch seines eigenen Atems die Umrisse einer schlanken Gestalt im schwarzen Gewand, die reglos im Hof stand und ihn unvermittelt ansah. Erschreckt wich er einen Schritt zurück, und die Fensterscheibe zersprang langsam vor seinen Augen, ausgehend von einem feinen Riss in der Mitte des Glases, der sich wie Efeu ausbreitete, ein Spinnennetz aus Rissen, von Hunderten unsichtbarer Beinchen gewoben. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten und sein Atem schneller ging.
Er blickte sich um. Seine Kameraden lagen reglos in ihren Betten und schliefen tief und fest. Wieder waren die fernen Kinderstimmen zu hören, und Ben bemerkte einen gallertartigen Nebel, der durch die Risse im Glas drang wie blauer Rauch durch ein Seidentuch. Er trat wieder ans Fenster und versuchte in den Hof hinunterzuspähen. Die Gestalt stand immer noch dort, doch diesmal streckte sie den Arm aus und deutete auf ihn, während ihre langen, spitzen Finger in Flammen aufgingen. Wie gebannt stand Ben einige Sekunden da, unfähig, den Blick von dieser Erscheinung abzuwenden. Als die Gestalt sich umdrehte und durch die Dunkelheit davonging, reagierte Ben und stürzte aus dem Schlafsaal.
Der Korridor war leer und nur schwach von einer alten Gaslaterne beleuchtet, die die Umbaumaßnahmen der letzten Jahre überlebt hatte. Er stürzte die Treppe hinunter, durch die Speisesäle und die Seitentür der Küche in den Hof, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Gestalt in der dunklen Gasse verschwand, die hinter dem Gebäude entlangführte. Sie war in dichten Nebel gehüllt, der aus der Kanalisation aufzusteigen schien. Ben rannte auf den Nebel zu und verschwand darin.
Der Junge lief etwa hundert Meter durch diesen Tunnel aus kaltem, waberndem Dunst, bis er zu dem großen Gelände im Norden von St. Patrick’s kam, einer Brache, die als Schrottplatz
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