Mitternachtspalast
vernichten wollte, eröffnete Llewelyn ihm, dass ihr und eure Mutter sich in seiner Gewalt befänden, und drohte damit, euch zu töten, wenn er ihm nicht den Feuervogel aushändige. Chandra blieb nichts anderes übrig, als darauf einzugehen. Doch das genügte Llewelyn nicht. Er ließ Chandra an der Lokomotive festketten, damit sie ihn beim Anfahren in Stücke riss, und stieß Kylian vor den Augen deines Vaters kaltblütig ein Messer in die Kehle. Dann hängte er sie an einem Seil in die zentrale Kuppel des Bahnhofs und ließ sie langsam verbluten. Gleichzeitig verkündete er dem Ingenieur, dass er euch in den Tunnels zurücklassen werde, damit ihr von den Ratten aufgefressen würdet.
Nachdem er Chandra an die Lok gefesselt zurückgelassen hatte, befahl er seinen Männern, den Zug in Fahrt zu setzen und den Feuervogel wegzubringen. Unterdessen brachte er euch in einen Tunnel, wo euch niemand je finden würde. Aber etwas lief nicht so wie geplant. Llewelyn hatte seinen Scharfsinn überschätzt, als er annahm, Chandra Chatterghee werde einfach so zulassen, dass eine derart zerstörerische Waffe wie der Feuervogel in die Hände eines Mörders geriet. Chandra hatte seine Vorsichtsmaßnahmen getroffen und den Feuervogel mit einem geheimen Zündmechanismus versehen, den nur er kannte. Ein Mechanismus, der die Waffe binnen Sekunden zerstörte, wenn irgendjemand außer ihm sie zu benutzen versuchte.
Als Llewelyn und seine Mörderbande den Zug bestiegen, beschloss ihr Anführer, zum Abschied und als Vorgeschmack auf die Rache, die er an der Stadt nehmen wollte, den Bahnhof zu zerstören und dafür zu sorgen, dass Chandras Werk vernichtet wurde und alle, die zur Einweihung dieses Wunderwerks gekommen waren, im Feuer umkamen. Und so unterschrieb Llewelyn, als er den Feuervogel zündete, sein eigenes Todesurteil und das aller anderen, die sich im Zug befanden. Fünf Minuten später brach im Bahnhof ein Inferno aus und riss ohne Unterschied alle unschuldigen und schuldigen Seelen in den Tod.
Ihr werdet euch fragen, wo die Antworten bleiben, warum ich euch über das Gefängnis belogen habe, in dem Jawahal einsaß, und warum sein Name nirgendwo auftaucht. Bevor ich weitererzähle, müsst ihr wissen – und das ist das Wichtigste, was ich euch zu sagen habe –, dass Chandra ein großartiger Mann war, ganz gleich, was ihr noch hören werdet. Ein Mann, der seine Frau liebte und auch seine Kinder geliebt hätte, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre. Aber jetzt zur Wahrheit …
Als dein Vater jung war und am Fieber erkrankte, wurde er nicht von einem Jungen in einer Hütte am Fluss gesundgepflegt, wie ich euch zuerst sagte. Dein Vater wuchs in einer Einrichtung im Süden von Kalkutta auf, die heute noch existiert und die den Namen Grant House trägt. Ihr seid zu jung, um diesen Namen schon einmal gehört zu haben, aber es gab eine Zeit, in der er traurige Berühmtheit erlangte. Dein Vater kam nach Grant House, nachdem er mit sechs Jahren etwas Schreckliches erlebt hatte. Seine Mutter, eine kranke Frau, die davon lebte, für ein Almosen ihren Körper zu verkaufen, verbrannte sich vor seinen Augen, um der Göttin Kali ein Opfer zu bringen. Grant House, wo Chandra aufwuchs, war ein Sanatorium, das, was ihr ein Irrenhaus nennen würdet …
Jahrelang war er in den Gängen dieses Gebäudes eingesperrt, ohne Eltern und ohne andere Freunde als die Menschen, die dort im Wahn vor sich hin vegetierten. Menschen, die behaupteten, Dämonen, Götter oder Engel zu sein, um tags darauf ihren Namen zu vergessen. Als er, so wie ihr jetzt, alt genug war, um von dort fortzugehen, hatte er eine Kindheit voller Grauen und größter Not hinter sich, schlimmer, als sie je ein Mensch in Kalkutta gesehen hat.
Ich muss euch nicht sagen, dass es diesen verhängnisvollen Freund, der all diese Verbrechen beging, nie gegeben hat und dass es keinen anderen dunklen Fleck im Leben deines Vaters gab als diesen Parasiten, der sich in seinem Kopf eingenistet hatte. Er beging diese Verbrechen mit seinen eigenen Händen, und die Reue und die Scham verfolgten ihn und lasteten auf ihm wie ein Fluch.
Erst Kylian mit ihrer strahlenden Güte konnte ihn heilen und gab ihm die Kraft, sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. An ihrer Seite schrieb er die Bücher, die ihr kennt, plante die Bauwerke, die ihn unsterblich machten, und vertrieb das Phantom seines Doppellebens. Aber die Habgier der Menschen ließ ihm keine Chance, und sein Leben, das in Glück und Wohlstand
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