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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Diesmal jedoch fehlte ihrer Stimme die Autorität und Entschlossenheit, die sie von ihr kannten. Am Ende hatte die Angst die innere Stärke getilgt, die sie einmal ausgestrahlt hatte, und die Freunde begriffen, dass hier nur noch eine schwache, zu Tode verängstigte alte Frau zu ihnen sprach, ein kleines Kind, das zu lange gelebt hatte.
     
    »Bevor ich beginne, lasst mich euch sagen, dass ich jedes Mal, wenn ich gelogen habe im Leben – und ich war oft dazu gezwungen – jemanden schützen wollte. Wenn ich euch belogen habe, dann in der Überzeugung, dass ich dich, Ben, und deine Schwester Sheere dadurch vor etwas schützen würde, das euch womöglich größeren Schaden zufügen konnte als die Machenschaften eines verrückten Verbrechers. Niemand weiß, wie sehr es mich schmerzte, diese Last seit dem Tag eurer Geburt ganz allein auf mich nehmen zu müssen. Was ich euch jetzt erzähle, ist die Wahrheit, so weit ich sie kenne. Hört mir gut zu und schenkt meinen Worten Glauben, auch wenn nichts schrecklicher und schwerer zu glauben ist als die reine, nackte Wahrheit …
    Es scheinen Jahre vergangen zu sein, seit ich euch die Geschichte meiner Tochter Kylian erzählte. Ich habe euch von ihr erzählt, von ihrer strahlenden Erscheinung und davon, wie ihre Wahl unter allen Verehrern auf einen Mann von einfacher Herkunft und großem Talent fiel, einen jungen Ingenieur, der eine vielversprechende Zukunft vor sich hatte, aber seit seiner Kindheit eine schwere Last auf seinen Schultern trug, ein Geheimnis, das ihm und vielen anderen den Tod bringen sollte. Auch wenn es euch absurd vorkommt, lasst mich am Ende dieser Geschichte beginnen statt am Anfang und zuerst auf das eingehen, was ihr bei euren Nachforschungen herausgefunden habt.
    Chandra Chatterghee war immer ein Träumer, besessen von der Vision einer besseren und gerechteren Zukunft für sein Volk, das er in den Straßen dieser Stadt elendiglich sterben sah, während sich jene, die er als Eroberer und Ausbeuter des Erbes unseres Volkes ansah, hinter den Mauern ihrer prachtvollen Häuser bereicherten. Auf Kosten von Millionen Menschen, die in diesem großen Armenhaus zum Unglück verdammt waren, führten sie ein Leben in Luxus und Ausschweifung.
    Sein Traum war es, der Nation ein Instrument für Fortschritt und Reichtum an die Hand zu geben, von dem er glaubte, es werde das drückende Joch der englischen Krone zerbrechen; ein Instrument, um neue Verbindungen zwischen den Städten zu schaffen, neue Enklaven und neue Wege in die Zukunft für die Familien Indiens. Er träumte von einer Erfindung aus Eisen und Feuer: der Eisenbahn. Für Chandra waren die Eisenbahnschienen die Arterien, die das neue Blut des Fortschritts ins ganze Land pumpen sollten, und dafür entwarf er ein Herzstück, aus dem all diese Energie kommen würde: den Bahnhof Jheeter’s Gate, sein Meisterwerk.
    Doch die Trennlinie zwischen Träumen und Albträumen ist rasiermesserscharf, und schon bald forderten die Schatten der Vergangenheit ihren Tribut. Ein hoher Vertreter der britischen Armee, Oberst Arthur Llewelyn, hatte eine kometenhafte Karriere gemacht, die auf seinen Schandtaten und Massakern an Unschuldigen, Alten und Kindern, unbewaffneten Männern und verängstigten Frauen in Dörfern und Ortschaften auf der ganzen bengalischen Halbinsel gründete. Überall, wo die Botschaft von der friedlichen Einheit eines neuen Indiens hinkam, tauchten seine Gewehre und Bajonette auf. Ein Mann mit großem Talent und großer Zukunft, wie seine Vorgesetzten stolz verkündeten. Ein Mörder unter der Flagge der Krone und mit einer Armee im Rücken. Einer unter vielen.
    Llewelyn wurde schon bald auf Chandras Talent aufmerksam und trieb ihn in die Enge, indem er alle seine Projekte blockierte. Nach einigen Wochen blieben Chandra sämtliche Türen in Kalkutta und der gesamten Provinz verschlossen. Außer der von Llewelyn natürlich. Der schlug ihm vor, im Auftrag der Armee zu bauen: Brücken, Eisenbahnlinien … Dein Vater lehnte sämtliche Angebote ab und hielt sich lieber mit dem elenden Lohn über Wasser, den ihm die Verleger in Bombay als Almosen für seine Manuskripte zuschickten. Irgendwann ließ Llewelyns Druck nach, und Chandra begann wieder an seinem Meisterwerk zu arbeiten.
    Im Laufe der Jahre jedoch begann Llewelyn erneut zu wüten. Seine Karriere war in Gefahr, und er brauchte dringend einen durchschlagenden Erfolg, ein frisches Blutbad, um wieder das Interesse der Mächtigen in London zu wecken und

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