Mitternachtspalast
hätte verlaufen können, versank erneut in Dunkelheit. Diesmal jedoch für immer.
Als Lahawaj Chandra Chatterghee sah, wie seine Frau vor seinen Augen ermordet wurde, stiegen die Schreckensjahre seiner Kindheit wieder in ihm auf und stürzten ihn erneut in seine ganz persönliche Hölle. Er hatte sein ganzes Leben auf einem Fundament errichtet, das nun zerfiel. Und als die Flammen über ihm zusammenschlugen, starb er in der Überzeugung, dass er der einzig Schuldige an dieser Tragödie war und es verdiente, bestraft zu werden.
Und so beschloss ein dunkler Schatten in Chandras Seele, aus dem Tod zurückzukehren, als Llewelyn den Feuervogel zündete und die Flammen auf die Tunnels und den Bahnhof übergriffen. Zurückzukehren wie ein Feuerengel. Ein zerstörerischer Racheengel. Ein Engel, der die dunkle Seite seiner Persönlichkeit verkörperte. Ihr werdet nicht von einem Mörder verfolgt. Das ist kein Mensch. Es ist ein Gespenst. Ein Geist. Oder, wenn ihr so wollt, ein Dämon.
Dein Vater war immer ein Freund von Rätseln, bis zum Schluss. Ihr habt mir einmal von einer Zeichnung erzählt, die Michael von euch anfertigte – das Bild, auf dem ihr euch in einem Teich spiegelt. Eure Gesichter im Wasser sind darauf spiegelverkehrt. Offenbar hat eine Vorahnung Michaels Hand geführt. Würdet ihr den Namen dort hinschreiben, den seine Mutter ihm bei der Geburt gab – Lahawaj –, würde das Wasser ein anderes Wort zurückwerfen: Jawahal.
Jawahals gequälte Seele ist seit jenem Tag an diese Höllenmaschine gefesselt, die er schuf und die ihm in seiner Todesstunde das ewige Leben gab. Ewiges Leben als Geist der Finsternis. Er und der Feuervogel sind eins. Das ist sein Fluch: die Verbindung von Rachegeist und zerstörerischer Maschine. Eine Seele, gefangen in den Dampfkesseln dieses brennenden Zugs. Und nun sucht diese Seele ein neues Zuhause.
Deshalb ist er hinter euch her, denn mit dem Moment eurer Volljährigkeit verlangt Jawahals Geist nach einem seiner Kinder, um in dessen Körper weiterzuleben und seine Macht auf die Welt der Lebenden auszudehnen. Nur einer von euch kann überleben. Der andere, in dessen Seele kein Platz für Jawahals Geist ist, muss sterben, damit Jawahal weiterleben kann. Vor sechzehn Jahren hat er geschworen, dass er euch suchen und sich zu Diensten machen würde. Und er hat seine Versprechen immer gehalten. Im Leben und auch danach. Ihr könnt sicher sein, dass er, während ich euch das erzähle, schon einen von euch ausgewählt hat, um seine verdammte Seele zu beherbergen. Nur er weiß, wen.
Das Schicksal hat euch vor sechzehn Jahren verschont, denn als Leutnant Peake in das Labyrinth von Jheeter’s Gate eindrang und Kylians leblosen Körper entdeckte, der an einem Seil über seinem eigenen Blut baumelte, hörte er auf einmal eure Schreie. Er schluckte seinen Schmerz hinunter, suchte euch und entriss euch den Händen des Phantoms, das einmal euer Vater war. Aber er konnte nicht weit kommen. Sein Weg führte ihn zu meiner Tür, wo er euch übergab und dann weiterfloh.
Falls du diese Geschichte eines Tages deiner Schwester Sheere erzählen solltest, dann vergiss nie – niemals! –, dass der Rachegeist, der in jener Nacht aus den Flammen von Jheeter’s Gate zurückkehrte und Leutnant Peake auf seiner Flucht tötete, nicht dein Vater war. Dein Vater ist zusammen mit den unschuldigen Kinderseelen im Feuer umgekommen. Aus dem Inferno kehrte nur ein Geist zurück, um sich selbst, die Früchte seiner Ehe und sein Werk zu zerstören. Ein Phantom, besessen vom Dämon der Rachsucht, des Hasses und des Grauens, die die Menschen in sein Herz säten. Das ist die Wahrheit, und nichts und niemand wird sie ändern können.
Wenn es einen Gott – oder Hunderte davon – gibt, so möge er – mögen sie – mir vergeben, dass ich euch Leid zufüge, indem ich euch die Geschichte so erzählt habe, wie sie sich zugetragen hat.«
Was soll ich sagen? Welche Worte könnten die abgrundtiefe Traurigkeit beschreiben, die ich an jenem Abend in den Augen meines besten Freundes Ben sah? Unsere Nachforschungen in der Vergangenheit hatten uns eine grausame Lektion erteilt und uns gezeigt, dass das Leben ein Buch war, dessen Seiten man besser nicht zurückblätterte; ganz gleich, welchen Weg wir einschlugen, nie würden wir selbst über unser Schicksal bestimmen. Ich wünschte mir, bereits an Bord jenes Schiffes zu sein, das mich weit wegbringen sollte und das am nächsten Tag ablegen würde. Meine Feigheit
Weitere Kostenlose Bücher