Mitternachtspalast
schoben ihm einen weichen, bequemen Gegenstand unter den Kopf. Der Junge zwinkerte mehrmals. Ian sah ihn aus geröteten, verzweifelten Augen erwartungsvoll an. Seth und Roshan waren bei ihm.
»Ben, kannst du uns hören?«, fragte Seth, der aussah, als hätte er eine Woche nicht geschlafen.
Plötzlich erinnerte Ben sich wieder und wollte sich aufrichten. Die Hände der drei Jungen hielten ihn zurück.
»Wo ist Sheere?«, brachte er heraus.
Ian, Seth und Roshan wechselten einen düsteren Blick.
»Sie ist nicht hier, Ben«, antwortete Ian schließlich.
Ben spürte, wie der Himmel über ihm zusammenstürzte, und schloss die Augen.
»Was ist passiert?«, fragte er schließlich, ein wenig ruhiger.
»Ich bin vor euch wach geworden«, erklärte Ian, »und habe beschlossen, etwas zu essen zu besorgen. Unterwegs habe ich Seth getroffen, der auf dem Weg hierher war. Als wir zurückkamen, haben wir gesehen, dass alle Fenster verschlossen waren und Rauch aus dem Haus quoll. Wir sind gerannt und haben dich bewusstlos hier gefunden. Sheere war nicht mehr da.«
»Jawahal hat sie verschleppt.«
Ian und Seth sahen sich betreten an.
»Was ist? Was hast du herausgefunden?«
Seth fuhr mit den Händen durch seinen dichten Haarschopf und strich sich eine Strähne aus der Stirn. Seine Augen verrieten ihn.
»Ich bin nicht sicher, ob es diesen Jawahal überhaupt gibt, Ben«, erklärte er. »Ich glaube, Aryami hat uns angelogen.«
»Was sagst du da?«, fragte Ben. »Weshalb sollte sie uns anlügen?«
Seth fasste die Ergebnisse ihrer gemeinsamen Nachforschungen mit Mr De Rozio zusammen und erklärte, dass Jawahal nirgendwo in den Akten auftauchte, lediglich in einem Brief von Oberst Llewelyn, der die ganze Sache aus undurchsichtigen Gründen vertuschen wollte. Ben hörte ihm ungläubig zu.
»Das beweist doch gar nichts«, warf er ein. »Jawahal wurde verurteilt und inhaftiert. Vor sechzehn Jahren ist er geflohen, und damit begannen seine Verbrechen.«
Seth seufzte, dann schüttelte er den Kopf.
»Ich war beim Gefängnis Curzon Fort, Ben«, sagte er bedrückt. »Es gab keine Flucht und keinen Brand vor sechzehn Jahren. Das Gefängnis brannte schon 1857 nieder. Jawahal kann nie dort gewesen und aus einem Gefängnis geflohen sein, das schon Jahrzehnte vor seinem Prozess nicht mehr existierte. Ein Prozess, in dem er nicht einmal erwähnt wird. Das passt alles nicht zusammen.«
Ben sah ihn sprachlos an.
»Sie hat uns angelogen, Ben«, sagte Seth. »Deine Großmutter hat uns angelogen.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Michael ist auf der Suche nach ihr«, erklärte Ian. »Wenn er sie gefunden hat, kommt er mit ihr hierher.«
»Und wo sind die anderen?«
Roshan sah Ian zögernd an. Der nickte ernst.
»Erzähl es ihm.«
Michael blieb stehen, um den Abendnebel zu betrachten, der über dem Westufer des Hooghly River lag. Dutzende von Gestalten in weißen oder gestreiften Gewändern tauchten in das Wasser des Flusses, ihr Stimmengewirr ging im Glucksen der Strömung unter. Die flatternden Tauben, die über das Labyrinth von Palästen und verblichenen Kuppeln hinwegflogen, von denen die glitzernde Fläche des Hooghly River gesäumt war, erinnerten an ein düsteres Venedig.
»Suchst du mich?«, fragte die alte Frau, die ein paar Meter von ihm entfernt auf der Erde hockte, das Gesicht hinter einem Schleier verborgen.
Als Michael sie ansah, lüftete sie den Schleier. Neben Aryami Bosés dunklen, traurigen Augen verblasste das Abendrot.
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, Madam«, sagte Michael.
Aryami nickte und stand langsam auf. Michael reichte ihr seinen Arm, und die beiden machten sich im Schutz der anbrechenden Nacht auf den Weg zum Haus des Ingenieurs Chandra Chatterghee.
Die fünf Jugendlichen versammelten sich schweigend um Aryami Bosé. Geduldig warteten sie, bis sie Platz genommen hatte und den Zeitpunkt gekommen sah, um wiedergutzumachen, dass sie ihnen die Wahrheit verschwiegen hatte. Keiner wagte es, ein Wort zu sagen, bevor sie etwas sagte. Die bedrückende Ungeduld, die sie innerlich zerfraß, wich einem Moment angespannter Ruhe, der düsteren Befürchtung, das Geheimnis, das die Frau so eifersüchtig gehütet hatte, könne sie vor eine unüberwindbare Herausforderung stellen.
Aryami betrachtete die Gesichter der jungen Leute mit abgrundtiefer Traurigkeit und verzog den Mund zu einem kaum merklichen Lächeln. Dann senkte sie den Blick, musterte ihre kleinen, sehnigen Hände, seufzte leise und begann zu reden.
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