Mitternachtspalast
verband sich mit dem Mitleid, das ich für meinen Freund empfand, und dem bitteren Geschmack der Wahrheit.
Wir hörten Aryami schweigend zu und wagten es nicht, auch nur eine einzige Frage zu stellen, obwohl uns Hunderte davon durch den Kopf gingen. Wir wussten, dass letztendlich alle Linien unseres Schicksals zu einem Ort führen würden, zu einer Begegnung, die uns bei Einbruch der Nacht in der Finsternis von Jheeter’s Gate erwartete.
Als wir nach draußen kamen, erlosch gerade das letzte Tageslicht in einem blutroten Band über dem Tiefblau der bengalischen Wolken. Ein leichter Sprühregen legte sich auf unsere Gesichter, während wir das tote Gleis entlanggingen, das von Lahawaj Chandra Chatterghees Haus durch den Westteil der
Schwarzen Stadt
zu dem riesigen Bahnhof am anderen Ufer des Hooghly River führte.
Ich erinnere mich, wie Ben uns kurz vor der Eisenbrücke über den Hooghly, die direkt in den Schlund von Jheeter’s Gate führte, mit Tränen in den Augen das Versprechen abnahm, unter keinen Umständen jemals weiterzuerzählen, was wir an diesem Abend gehört hatten. Falls er herausfinden sollte, dass Sheere von einem von uns die Wahrheit über ihren Vater erfahren habe, über dieses Phantasiebild, das sie seit ihrer Kindheit nährte, dann, so schwor er, werde er denjenigen eigenhändig umbringen. Wir alle versprachen, das Geheimnis für uns zu behalten.
Es fehlte nur noch ein Puzzleteil in unserer Geschichte: der offene Kampf.
Der Name der Mitternacht
Kalkutta, 29 . Mai 1932
Der Schatten des Unwetters kündigte sich vor Mitternacht an und breitete langsam eine riesige, bleigraue Decke über Kalkutta, die bei jeder elektrischen Entladung, die sich in ihrem Inneren verbarg, in blutrotem Leuchten entflammte. Der aufziehende Sturm hing über der Stadt wie eine riesige Spinne aus Licht, die ihr Netz über Kalkutta zu weben schien. Ein starker Nordwind zerriss den Nebel über dem Hooghly River und entblößte das nackte Gerippe der Eisenbrücke.
Die Silhouette von Jheeter’s Gate ragte aus den Nebelschwaden. Ein Blitz schlug in die zentrale Kuppel des Bahnhofs ein und zersprang zu blauen Lichtranken, die über die Eisenträger und Bögen nach unten zuckten.
Die fünf Jungen blieben am Anfang der Brücke stehen. Nur Ben und Roshan gingen ein paar Schritte weiter in Richtung Bahnhof. Der Schienenstrang bildete zwei silbrig schimmernde Linien, die im Bahnhof verschwanden. Wolken jagten vor dem Mond vorbei, und die Stadt schien unter einem diffusen blauen Lichtschleier zu liegen.
Ben suchte die Brücke aufmerksam nach Rissen oder Spalten ab, die sie direkt in die nächtlichen Fluten des Flusses befördern konnten, aber zwischen Unkraut und Schutt war nicht viel mehr zu erkennen als der glänzende Schienenstrang. Der Wind trug ein fernes Grummeln von der anderen Seite des Flusses herüber. Ben sah Roshan an, der nervös den dunklen Schlund des Bahnhofs beobachtete. Dann beugte Roshan sich über das Gleis, ohne Jheeter’s Gate aus den Augen zu lassen. Er legte die Hand auf die Schienen und zog sie sofort wieder zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen.
»Sie vibrieren«, sagte er verängstigt. »Als ob ein Zug käme.«
Ben trat zu ihm und berührte das Metall. Roshan sah ihn erwartungsvoll an.
»Das ist der Fluss, der gegen die Brücke drückt«, beruhigte er ihn. »Da kommt kein Zug.«
Seth und Michael gesellten sich zu ihnen, während Ian in die Hocke ging, um einen Doppelknoten in seine Schnürsenkel zu machen, ein Ritual, zu dem er immer Zuflucht nahm, wenn seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren.
Dann blickte er auf und lächelte schüchtern, um sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Aber Ben wusste, dass er Angst hatte, genau wie die anderen und er selbst.
»Heute Nacht würde ich einen Dreifachknoten machen«, scherzte Seth.
Ben grinste, und die Mitglieder der Chowbar Society sahen sich aufmunternd an. Das Ritual hatte ihrem Freund schon in anderen Notlagen geholfen, also machten sie es Ian nach und banden ihre Schuhe neu.
Dann betraten sie vorsichtig die Brücke, einer hinter dem anderen, Ben voran, Roshan als Schlusslicht. Auf Anraten von Seth versuchte Ben, gleich neben den Schienen aufzutreten, wo die Brücke stabiler war. Am helllichten Tag war es einfach, morsche Holzplanken zu umgehen und rechtzeitig zu erkennen, wo das Material nachgegeben hatte und über dem Fluss hing wie eine Rutsche, doch um Mitternacht und im aufziehenden Sturm verwandelte sich der
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