Mitternachtsstimmen
Grafschaft zu leben und
nicht in der quirligsten Stadt der Welt. Und genau das war es,
was die Wohnung, die sie sich mit ihrer Schwester Lavinia
teilte, so vorzüglich machte. Sie lag hoch genug, dass sie in den
Park schauen und während der Wintermonate sogar durch die
schwarzen Baumskelette hindurch die Häuser entlang der Fifth
Avenue erkennen konnte. Andererseits aber lag die dritte Etage
niedrig genug, dass während der übrigen drei Jahreszeiten nur
die neu erbauten Wolkenkratzer an der Second und Third
Avenue sichtbar waren, und wenn sie diese ignorierte – und
Irene verstand es vorzüglich, alles zu ignorieren, was sie nicht
sehen wollte –, konnte sie sich der Illusion hingeben, dass die
Stadt nicht unmittelbar in ihrer Nähe pulsierte, sondern weit
hinter den Baumwipfeln außerhalb ihres Fensters. Um die
Illusion freilich perfekt zu machen, durfte sie nicht auf die
Straße direkt unter dem Fenster blicken, aber das war eine
leichte Übung – waren die Räume doch groß genug, dass sie
nur genügend Abstand zum Fenster wahren musste, so dass
nichts ihren Blick auf eine beinahe unendliche Parklandschaft
trübte.
Und nachts musste man einfach nur die Jalousien runter
lassen.
Dieser Morgen war so strahlend, dass der Sonnenschein
Irene ans Fenster gelockt hatte wie das Licht die Motte, und
obwohl sie das Fenster seit Jahren nicht geöffnet hatte, war sie
heute beinahe versucht, die schweren Fensterflügel
hochzuschieben und die Morgenluft hereinzulassen.
Aber nur beinahe.
Was Irene betraf, so war gegen frische Luft nichts einzuwenden, aber bitte nicht innerhalb der Mauern des Rockwell.
Dennoch schien dieser Morgen es geradezu zu fordern, dass sie
die Haken löste und das Fenster öffnete. Andererseits wusste
sie genau, dass der Haken sich nicht lösen und das Fenster sich
nicht bewegen ließ; nicht ohne vorher die Lackschichten der
letzten drei Renovierungen zu entfernen, die diese Wohnung
erlebt hatte. Drei Renovierungen, an die Irene und Lavinia sich
zu erinnern geruhten. Es hatte nämlich noch einige andere
Umgestaltungen gegeben, doch das waren Launen gewesen,
einem kurzlebigen Trend folgend, und die hatte Irene genauso
einfach aus ihrer Erinnerung gestrichen wie sie die Stadt aus
ihrem Blickwinkel ausblendete. Doch heute Morgen ertappte
sie sich dabei, wie sie nicht nur hinaus in den Park schaute,
sondern auch hinunter auf die Straße.
Ein paar Minuten zuvor hatte sie eine kleine Familie in den
Park gehen sehen: eine Mutter mit ihrem Sohn und ihrer
Tochter. Und sofort hatte sie ihr kleines Spiel in Gang gesetzt
und Mutmaßungen darüber angestellt, wohin sie gingen und
was sie wohl vorhatten. Sie beobachtete, wie sie zunächst auf
der anderen Straßenseite gingen, dann die Straße überquerten,
und wie der kleine Junge immer wieder das große Gebäude
angestarrt hatte. Sie sah, wie sie auf den Fußweg in den Park
abgebogen und Richtung Tavern on the Green spazierten. Um
diese Zeit würden sie aber sicherlich nicht das Restaurant
aufsuchen. War es überhaupt schon offen? Zudem waren sie
gar nicht für einen Restaurantbesuch angezogen. Der Junge
trug Jeans und einen Baseball-Dress.
Einen Baseball-Dress! Natürlich! Ihr Ziel war das Baseballfeld in der Nähe des Spielplatzes.
Und hier kam gerade Anthony Fleming.
Beinahe makellos gekleidet wie immer: graue Flanellhose,
hellblaues Oberhemd und darüber einen marineblauen Blazer,
aus dessen Brusttasche nur die Spitze eines roten Einstecktuchs
blitzte. Die Tatsache, dass er keine Krawatte trug, veranlasste
Irene dazu, die Perfektion seines Aufzugs einzuschränken.
Anthony besaß zweifellos Stil, was Irene sehr für ihn einnahm,
doch es gab gewisse Laxheiten, die zwar als flott galten, die sie
aber nicht so gern sah.
Eine dieser Modetrends waren offene Hemdkrägen, die ihrer
Ansicht nach nur bei ganz wenigen Männern attraktiv wirkten.
Bei den meisten anderen Vertretern dieser Spezies entblößten
sie entschieden unattraktive Brusthaare, die sich oft um eine
vulgäre Goldkette ringelten. Und auf diesen Anblick konnte
Irene dankend verzichten. Nicht dass sie grundsätzlich etwas
gegen Haut und Fleisch einzuwenden hatte – nur gegen Haare
eben. Es hatte Zeiten in ihrem Leben gegeben – und sie hoffte,
dass es diese Zeiten wieder geben würde –, da sie die
physischen Freuden des Lebens genossen hatte. Doch dabei
war ihr die Ästhetik immer sehr wichtig gewesen, einer der
Gründe, warum Irene
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