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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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tatsächlich Recht gehabt,
denn die Kleine war im Lauf der Zeit ordentlich gewachsen
und auch etwas fester geworden, ohne so ballonartige Ausmaße
anzunehmen wie ihre Pflegeeltern. Doch seit einigen Wochen
wirkte das Mädchen sehr blass und müde, und außer Irene
hatten auch einige der anderen Nachbarn angefangen, sich um
sie Sorgen zu machen. »Ach, ich dachte, vielleicht ist sie
kräftig genug, mich in den Park zu begleiten.«
Alicia schüttelte den Kopf. »Dr. Humphries muss jeden
Moment kommen – ich dachte schon, er wäre es. Vielleicht ein
andermal?«
»Aber ja«, versicherte Irene. »Bestellen Sie Rebecca einen
lieben Gruß von mir und sagen Sie ihr, dass ich mir für Morgen
etwas Tolles für sie ausdenken werde.« Zurück im Fahrstuhl,
drückte sie den Knopf für die Lobby. Während der altmodische
Aufzug in dem Schacht, den das achtgeschossige Treppenhaus
bildete, dem Erdgeschoss entgegen ratterte, blickte Irene
wehmütig auf die Leiste mit den diversen Knöpfen, die vor
etlichen Jahren Willie, den Fahrstuhlführer, ersetzt hatte. Seit
die Nachbarn mehrheitlich dafür gestimmt hatten, den
Fahrstuhl auf Selbstbedienung umzurüsten, fühlte Irene sich
nie mehr ganz sicher. In den Jahren zuvor hatte sie immer
gewusst, dass Willie sich um alles kümmern würde, sollte
einmal etwas schief gehen. Aber was sollte sie jetzt tun?
Lauthals nach Rodney rufen, der die Treppen hinaufgelaufen
käme, sie beruhigen, aber sonst nicht wissen würde, was er
unternehmen sollte? Aber vielleicht würde ja gar nichts
passieren.
Möglicherweise doch, entschied sie eine Sekunde später
düster. Aber als kurz darauf der Aufzug scheppernd, aber
sicher im Erdgeschoss zum Stehen kam und sie aus dem Käfig
entließ, verscheuchte sie diese unangenehmen Gedanken ganz
schnell. »Wir werden zusammen einen kleinen Spaziergang
unternehmen«, verkündete sie Anthony Fleming, der sie so
verwirrt ansah, dass sie sicher sein konnte, mit keinem
Widerspruch rechnen zu müssen. »Es ist ein herrlicher Tag,
den nicht zu nützen eine Schande wäre.«
»Und wenn ich nun bereits anderweitige Arrangements
getroffen hätte?«, versuchte es Fleming und setzte eine ernste
Miene auf, die Irene sogleich durchschaute.
»Dann würden Sie diese selbstverständlich absagen«,
erklärte sie. »Wie viel älter, glauben Sie, bin ich wohl als Sie?«
Fleming zuckte unverbindlich die Schultern. »Ein paar
Jährchen.«
»Ein paar Dekädchen, meinen Sie wohl«, schoss sie leicht
säuerlich zurück. »Zumindest fühle ich mich heute so. Und
weil dem so ist, poche ich auf das Altersprivileg und lasse mich
von Ihnen zu einem Bummel durch den Park ausführen. Mutter
Natur wird sich uns in ihrem schönsten Blütenkleid und in
jugendlicher Frische präsentieren. Vielleicht vermag das ja
meine Stimmung ein wenig zu heben.«
Anthony Fleming schickte eine hilflose Geste in Richtung
Rodney, der aus seiner Loge herausgrinste, und hielt Irene
galant die Tür auf. »Wo soll’s denn hingehen? Oder lassen wir
uns einfach treiben?«
»Kinder«, sagte Irene und wandte sich nach Süden. »Wenn
ich mich alt und gebrechlich fühle, dann begebe ich mich gern
in die Nähe von Kindern.«
»Vielleicht hätten Sie selbst welche haben sollen«, schlug
Anthony vor.
»Kindern beim Spielen zuzusehen, ist eine Sache. Eigene
Kinder zu haben, eine ganz andere.« Sie seufzte nachdrücklich.
»Wenn mein Kind krank würde, wüsste ich nicht, wie ich
damit umgehen würde.«
»Wie alle anderen Mütter auch«, versicherte Anthony ihr.
»Sie würden es einfach durchstehen.«
»Das muss entsetzlich schwer sein.«
Darauf folgte ein langes Schweigen, aber dann nickte
Anthony einvernehmlich. »Das ist es«, pflichtete er ihr bei.
»Das ist in der Tat sehr schwer.«
Caroline und Laurie waren noch gut hundert Meter vom
Spielplatz entfernt, als eine Stimme hinter ihnen rief: »Laurie?
    Laurie! Warte auf mich!«
Caroline drehte sich um und sah Amber Blaisdell auf sie
zulaufen. Das blonde Mädchen mit den ebenmäßigen
Gesichtszügen trug denselben Pagenkopf wie ihre Mutter. Sie
steckte in Bermuda-Shorts, einer weißen Bluse und trug den
Pulli um die Hüften gebunden – dieselbe Einheitstracht, die die
Hälfte der Mädchen von Lauries ehemaliger Schule trugen,
wenn sie nicht ihre Schuluniformen anhatten.
»Hallo, Amber«, sagte Laurie, als das andere Mädchen sie
eingeholt hatte.
»Ein paar von uns gehen zum Mittagessen in den Russian
Tea Room! Kommst du

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