Mitternachtsstimmen
letzten fünf Jahren kein Tag vergangen, an
dem sie nicht an die Vorkommnisse gedacht hatte, die sich
nach Brads Tod ereignet hatten. Auch wenn die Schrecken, die
Anthony Fleming in ihr Leben getragen hatte, nicht mehr den
vordersten Platz in ihrem Bewusstsein einnahmen, so lauerten
sie sehr wohl in ihrem Unterbewusstsein. Seit dem Tag, als
Irene Delamond sich im Central Park neben sie gesetzt hatte,
war sie vor Fremden auf der Hut, besonders vor Leuten, die ein
Interesse an ihren Kindern bekundeten.
Das war zwar weiter nicht schlimm, doch diese Erinnerungen manifestierten sich auch in einer unüberwindbaren Angst,
die Kinder allein zu lassen, und sei es nur für ein paar Minuten.
Das war die größte Schwierigkeit, die es zu meistern galt, als
sie sich schließlich entschlossen hatte, diese Reise zu unternehmen und die Kinder in der Obhut von Mark Noble und
Kevin Barnes zurückzulassen. Auch das hatte ihr ein
vorwurfsvolles Augenverdrehen eingebracht. »Wir sind doch
keine Babys mehr«, hatte Ryan voller Entrüstung protestiert.
»Wir können sehr wohl auf uns selbst aufpassen.«
»Mag sein, aber das wäre mir nicht recht«, hatte Caroline
erwidert. »Ihr bleibt bei Kevin und Mark, Ende der
Diskussion.«
Nach einer Weile hatten die Leute in der Stadt unweigerlich
das Interesse an dem plötzlichen Verschwinden sämtlicher
Bewohner des Rockwell verloren – und selbst die Polizei hatte
inzwischen die Suche eingestellt. »Es ist, als hätten sie nie
existiert«, hatte Frank Oberholzer bei ihrem letzten
Zusammentreffen zu Caroline gesagt.
»Wie meinen Sie das, nie existiert?«, hatte sie gefragt. »Es
hat sie sehr wohl gegeben. Ich kannte sie. Ich habe einen von
ihnen geheiratet, verdammt noch mal. Und Sie haben mit ihnen
gesprochen!«
Oberholzer nickte. »Trotzdem habe ich nicht die leiseste
Ahnung, woher sie kamen und wohin sie verschwunden sind.
Abgesehen von den Albions gibt es keine Hinweise.«
»Aber über die haben Sie etwas herausgefunden?«, bohrte
Caroline nach, begierig, irgendetwas zu finden, das ihr
schließlich die Wahrheit über das verriet, was sich im
Rockwell abgespielt hatte. Doch die Hoffnung zerstreute sich
schnell.
»Nur dass der wirkliche Max Albion vor siebenundvierzig
Jahren in Kansas im Alter von vier Jahren gestorben ist; und
der Mädchenname seiner Frau laut Heiratsurkunde Alicia
Osborn gewesen ist. Kopien der Geburtsurkunden dieser
beiden Kinder wurden im Abstand von wenigen Wochen an
Flemings Kanzlei in der 53. Straße geschickt. Und das liegt
beinahe fünfundzwanzig Jahre zurück. Mit diesen Urkunden
konnten die Albions die Mitarbeiter der Vermittlungsstelle für
Pflegekinder täuschen. Doch bei allen anderen – einschließlich
Fleming – haben wir weder Geburtsurkunden noch eine
Sozialversicherungsnummer, keine Wahlunterlagen, keine
Führerscheine, nichts.«
»Aber das ist doch nicht möglich«, warf Caroline ein. »Ich
meine, schließlich waren sie Besitzer dieser Wohnungen –«
»Es gibt keinerlei Unterlagen darüber, dass einer von ihnen
jemals eine Wohnung im Rockwell gemietet oder gekauft hat«,
fiel Oberholzer ihr ins Wort. »Tatsache ist, dass im Rockwell
nichts, aber auch gar nichts jemals den Besitzer gewechselt hat
– eine rumänische Gesellschaft hat das Gebäude gebaut, und es
befindet sich auch heute noch in deren Besitz.«
»Rumänisch?«, wiederholte Caroline ungläubig. »Aber
Rumänien hat doch damals zum Ostblock gehört. Wie konnte
da –«
Wieder beantwortete Oberholzer ihre Frage, ehe sie sie
ausgesprochen hatte: »Alle Zahlungen wurden von einer
Schweizer Bank abgewickelt, und ich meine wirklich alle: die
Steuern, alle Nebenkosten, die Renovierungsarbeiten und so
weiter. Kein Bewohner dieses Hauses hat jemals etwas direkt
aus seiner eigenen Tasche bezahlt.«
Caroline schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wahr – Irene
Delamond hat mir einen Scheck –«
»Ja, von einem Bankkonto eben dieser Schweizer Bank. Sie
alle hatten Girokonten und besaßen Kreditkarten, die sich
allesamt zu dieser einen Bank zurückverfolgen ließen. Unnötig
zu sagen, dass sich die zuständigen Herrschaften erst einmal
auf das Schweizer Bankgeheimnis berufen. Und wie lange es
dauert, die notwenigen Schritte …« Seine Stimme verklang
und dann knurrte er angewidert: »Wie lange es dauert, die
notwenigen Schritte einzuleiten, weiß der Himmel.«
Und das war das Ende gewesen.
Während die Wochen sich zu Monaten und die
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