Mittsommerzauber
nicht Bertil, der die Apotheke betreten hatte, sondern Harald.
»Was willst du hier?«, fragte sie.
Er kam ohne Umschweife hinter die Theke, suchte mit fiebrigen Blicken die Aufschriften auf den Schubladen ab und zog schließlich eine davon auf. Mit beiden Händen in den Medikamenten wühlend, sagte er gepresst über die Schulter: »Es ist ein Notfall. Sonst täte ich das nicht.«
Er hatte gefunden, wonach er suchte, und steckte es ein. Anna hielt ihn am Arm fest, als er verschwinden wollte.
»Das kannst du nicht tun! Es ist Diebstahl!«
»Ach komm, hab dich nicht so. Es bleibt doch in der Familie.«
»Harald, du bist tablettenabhängig, und du weißt es.«
»Blödsinn. Ich brauche nur hin und wieder was gegen
meine Kopfschmerzen. Oder wenn ich im Stress bin. Das habe ich bald wieder im Griff, glaub mir.«
»Rede nicht solchen Unfug. Du machst dich kaputt!« Sie weigerte sich, seinen Arm loszulassen, obwohl er gegen ihren Widerstand in Richtung Tür strebte. »Harald, ich kenne ein paar Adressen in Stockholm. Niemand hier muss es erfahren. Nicht mal Mama, wenn du mitmachst und sauber bleibst. Es ist eine Krankheit, und man kann etwas dagegen tun.«
»Ich schaff das allein«, wehrte er ab. »Mach dir keine Sorgen um mich.«
»Ich will dir doch nur helfen!«
Ihr letzter Satz fiel mit dem erneuten Läuten der Türglocke zusammen. Bertil kam herein und musterte sie erstaunt. »Alles in Ordnung mit euch beiden?«
Notgedrungen ließ Anna ihren Bruder los. »Ja, alles bestens.«
»Ich bin schon wieder weg. Auf Wiedersehen, Bertil. Anna.« Er wich ihren Blicken beharrlich aus und ging eilig zur Tür.
Anna blendete alle Sorgen um Harald aus und wandte sich Bertil zu. »Zeit, endlich mit dir zu reden.« Sie holte tief Luft. »Bertil, ich habe etwas Wichtiges begriffen, und das musst du wissen, bevor du diese Bewerbung als Bordapotheker abschickst. Dass ich wegwollte, hat nichts mit der Stadt oder mit meiner Arbeit hier in der Apotheke zu tun.« Einschränkend setzte sie hinzu: »Die mir allerdings wirklich keinen Spaß macht. Ich... O Gott, das ist so schwierig... Bitte, Bertil, ich will dir nicht wehtun, aber...« Sie brach ab.
»Du wolltest vor r«?r davon laufen«, sagte er.
»Ja«, stimmte sie zu, nur um sofort den Kopf zu schütteln. »Nein, nicht direkt. Nicht vor dir. Ich mag dich wirklich sehr, das weißt du. Aber... Bertil, es war so selbstverständlich, dass wir ein Paar sind. Seit der Schule war es für uns alle klar, so klar, dass niemand auf die Idee gekommen ist, zu überlegen, ob das so in Ordnung ist. Ich meine...« Sie brach ab und suchte nach Worten. »Alle waren so davon überzeugt, dass wir zusammengehören. Vielleicht haben wir uns deshalb nie die Frage gestellt, ob das auch wirklich stimmt.«
Zaghaft berührte sie seine Hand. »Ich habe es schon länger geahnt, da war so ein Gefühl der Unzufriedenheit... Aber ich habe einfach nicht den Mut aufgebracht, es mir einzugestehen. Und dir gegenüber konnte ich meine Bedenken erst recht nicht äußern. Du bist so ein lieber Freund... Wahrscheinlich der beste Freund, den ich je haben werde.« Sie hob den Kopf und schaute ihn an. »Aber Liebe ist es nicht.«
Endlich hatte sie es ausgesprochen, und es war, als wäre ein Felsbrocken von ihrer Seele gerollt.
»Ich weiß nicht mal, ob ich wirklich von hier wegwill«, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung als Nächstes sagen. Sie hielt inne, um diesen neuen Gedanken weiterzuspinnen. Zögernd fuhr sie fort: »Ich bin im Grunde gerne hier. Ich... Ich mag die Gegend und die Menschen.« Schon während sie das sagte, spürte sie, dass es die Wahrheit war. Mit einem Mal war ihr Entschluss, von hier fortzugehen, wieder ins Wanken geraten, und jetzt erst wurde ihr klar, was ihre Mutter gemeint hatte. Sie musste erwachsen werden...
Vor allem aber musste sie dies hier zu Ende bringen.
»Es liegt daran, dass ich nicht mit dir leben kann, Bertil. Das mit uns - es ist vorbei.« Sie wusste, dass sie ihm damit wehtat, aber es war nicht zu ändern.
Bertil schluckte, und sie sah, wie sehr es ihm zusetzte.
Doch sie fand auch Verständnis in seinen Augen, und um seine Lippen zuckte ein reumütiges Lächeln auf. »Ich habe es geahnt, weißt du. Ich wollte es bloß nicht wahrhaben. Jetzt bin ich froh, dass es endlich raus ist. Damit ist wenigstens alles klar.«
»Meinst du...« Anna zögerte. »Meinst du, wir können Freunde bleiben?«
Er senkte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Sicher nicht sofort. Nach
Weitere Kostenlose Bücher