Mittsommerzauber
unbeeindruckt, wie es nur jemand konnte, der mit allen Mitteln seine eigenen Ziele verfolgte, ohne dabei Rücksicht auf andere zu nehmen. Und wie musste erst ihrer Mutter zumute sein, die darauf vertraut hatte, dass er die Firma retten würde! Um ein Haar hätte Silvia diesem Mann alle Wege geebnet, das Werk einem gefräßigen Investor zuzuschustern!
Erschöpft ging Anna zum Haupthaus. In der Halle begegnete sie Harald, der auf sie zutrat, sobald sie die Tür geöffnet hatte. Ihr war sofort klar, dass er auf sie gewartet hatte. Sie erschrak, als sie sein verzerrtes Gesicht sah.
»Du musst mir helfen«, sagte er.
»Was ist los? Hast du wieder Kopfschmerzen?«
Er nickte und stöhnte leise. »Ich kann es nicht mehr aushalten, Anna. Ich brauche diese Tabletten!«
»Ich bringe dich zum Arzt«, sagte sie.
»Nein«, widersprach er. »Mein Arzt ist in Urlaub. Verdammt, du bist meine Schwester! Besorg mir endlich das Zeug!«
Entsetzen bemächtigte sich ihrer, als sie endlich erkannte, was los war. Er litt unter Medikamentenabhängigkeit. Wann war das passiert? Wie hatte das ihr und ihrer Mutter entgehen können?
»Harald«, sagte sie vorsichtig, »du bist krank. Lass uns bitte...«
»Danke für deine Hilfe und dein Mitgefühl«, fiel er ihr ins Wort. Seine Augen flackerten vor Zorn. »Ist echt toll, was ich für eine Familie habe!« Er wandte sich brüsk ab, ging zur Treppe und verschwand mit Riesensätzen nach oben.
Anna hielt sich nicht damit auf, ihn zur Vernunft bringen zu wollen. Sie brauchte Hilfe von außen. Kontakt mit einer Drogenberatungsstelle, einem Arzt... Sie überlegte, was als Nächstes zu tun war, während sie das Haus verließ und zu den Werksgebäuden hinüberging.
Hin und her gerissen zwischen der Entscheidung, ihre Mutter einzuweihen oder aber zuerst einen Arzt hinzuzuziehen, beschloss sie, zunächst medizinischen Rat einzuholen. Vielleicht war es noch nicht so schlimm, wie sie befürchtete, und außerdem würde Silvia weniger beunruhigt sein, wenn sie wusste, dass Harald bereits in Behandlung war. Anna war entschlossen, ihn notfalls dazu zu zwingen, und wenn sie ihn deswegen erpressen müsste.
Silvia saß an ihrem Schreibtisch, und es schnitt Anna ins Herz, als sie sah, dass ihre Mutter weitere Bewerbungen um den jetzt wieder vakanten Geschäftsführerposten studierte. »Hej, Mama«, sagte sie leise.
Silvia nickte ihr zu. Ihre Augen waren leicht gerötet, und Anna war davon überzeugt, dass ihre Mutter geweint hatte. Sie holte tief Luft und ging zum Fenster, um hinauszuschauen. Wenn Silvia ihr Gesicht sah, würde sie sofort merken, dass etwas passiert war, und sie würde nicht eher Ruhe geben, bis sie alles wusste.
Die Enttäuschung nach dem Debakel mit Robert war schlimm genug für ihre Mutter. Ganz zu schweigen von der Neuigkeit, die Anna ihr mitzuteilen hatte.
»Mama, ich möchte dir sagen, dass ich von hier weggehe. Auf ein Kreuzfahrtschiff Am ersten September geht es los.« Tief durchatmend fügte sie hinzu: »Ich muss einfach hier raus, Mama.«
Erleichterung durchströmte sie, als sie sah, wie ihre Mutter lächelte. »Das sage ich doch schon lange, mein Schatz. Natürlich musst du raus. Hinein in dein eigenes Leben. Allerdings - ob du das auf einem Kreuzfahrtschiff finden wirst...«
»Es ist ein Versuch.« Gereizt hob Anna die Schultern. »Verdammt, ich kann doch nicht mein ganzes Leben in Bertils Apotheke arbeiten!«
»Das ist mir klar. Aber geht es hier wirklich um die Apotheke?«
Anna wusste nicht, was ihre Mutter meinte, und auf ihren fragenden Blick hin fuhr Silvia fort: »Du wirst schweres Gepäck mitnehmen müssen. Alle deine Probleme.«
»Wenn ich weggehe, lasse ich meine Probleme hinter mir«, behauptete Anna, in der Hoffnung, es möge wirklich so sein.
»Und wenn nicht?«, fragte ihre Mutter, um sich gleich darauf selbst die Antwort zu geben. »Dann wirst du wohl endlich erwachsen werden müssen.«
»Ich bin erwachsen«, sagte Anna irritiert.
»Wirklich?«, fragte Silvia mit einem bedeutungsvollen Unterton.
Anna wollte es bejahen, doch dann lächelte sie leicht gezwungen. Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete sie sich von Silvia und verließ das Büro. Vielleicht hatte ihre Mutter Recht. Wenn sie nicht aufpasste, nahm sie ihre Probleme mit. Und erwachsen zu sein bedeutete in diesem Falle nichts anderes, als ein für alle Mal klare Verhältnisse zu schaffen. Das konnte sie nur erreichen, indem sie das tat, wovor sie schon die ganze Zeit Angst gehabt hatte. Sie
Weitere Kostenlose Bücher